Wie konnte das jemals Normalität werden?
"Noch nie habe ich mich so geschämt, wie in den Tagen, die ich in den Flüchtlingscamps auf den griechischen Inseln verbracht habe. Und nach diesen Tagen auf Samos und Lesbos lassen mich verschiedene Fragen nicht los: Wo bleibt der gesellschaftliche Aufschrei? Wie konnten die entsetzlichen Bedingungen, unter denen Zehntausende Schutzsuchende in Europa überleben müssen, zu einer Art Normalität werden? Menschen, die Jahr um Jahr zwischen Ratten und Müll sich selbst überlassen werden. Wie konnten wir uns daran gewöhnen, dass dies auf diesem reichen Kontinent geschieht, der sich selbst als Hort des Friedens, als Verteidiger der Menschenrechte betrachtet? Wie können wir es unseren Politiker*innen durchgehen lassen, dass es keine sofortige Lösung für die Geflüchteten gibt?" Unsere Redakteurin Valeska Cordier berichtet von einem Ort, wo Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit zum Alltag geworden sind.
"Als ich Ende Januar im Vathy Geflüchtetencamp auf der Insel Samos stehe, kann ich mir kaum vorstellen, dass es irgendwo in Europa einen Ort gibt, an dem Menschen unter noch schlechteren Bedingungen leben müssen. Wir laufen schmale ausgetretene Pfade den Berg hinauf, über Müll und Abwasser-Gräben, durch Schlamm. Der abgetrennte offizielle Teil des Camps macht nur einen kleinen Bereich aus – der Großteil der Menschen lebt außerhalb des hohen Zauns in einem Olivenhain in kleinen Sommerzelten oder selbstgebauten Verschlägen aus Holzpfosten und Plastikplanen. Überall sitzen Menschen an kleinen Feuern, spielen Kinder jeglichen Alters, viele von ihnen sind trotz kalter Temperaturen barfuß unterwegs.
Sie hoffen auf Sicherheit und Schutz - vergebens
Die Menschen, die hier ankommen, sind meist schon mehrere Monate, wenn nicht Jahre auf der Flucht – vor Krieg, Gewalt und Armut. Einige der Kinder haben noch nie eine Schule besucht, manche leben seit ihrer Geburt in Zelten. Bevor sie auf den griechischen Inseln ankommen, hoffen die Flüchtenden, dass sie in Europa endlich Schutz finden werden. Dass dies der Ort sein wird, an dem sie endlich sicher sind, an dem ihre Kinder zur Schule gehen können, an dem sie nicht täglich ums Überleben kämpfen müssen.
Doch wenn die Menschen dann die lebensgefährliche Flucht überstanden haben und auf einer der griechischen Inseln ankommen, wiederholt sich ihre Geschichte: konstante Unsicherheit, prekäre Lebensbedingungen, Gewalt, Krankheiten. Die Aufnahmecamps sind seit Jahren komplett überlastet – in den vergangenen Monaten sind die Zahlen noch einmal enorm angestiegen, gleichzeitig werden nur wenige Menschen aufs Festland transferiert. Die Lebensbedingungen - inzwischen durch zahlreiche Berichte von Medien und NGOs weit bekannt - sind absolut inakzeptabel. Abgesehen von den unzureichenden Unterkünften, gibt es nicht genug Wasser und Essen, Duschen und Toiletten, medizinische Versorgung. Schwangere müssen ebenso in den unbeheizten Zelten leben, wie Frauen und Neugeborene wenige Tage nach der Geburt. Die Gefahr sexualisierter Gewalt ist insbesondere für alleinreisende Frauen und unbegleitete Minderjährige enorm groß.
Es geht noch schlimmer
Zwei Tage später besuche ich das Camp Moria auf der Insel Lesbos und muss einsehen: es geht noch schlimmer. In Moria leben fast dreimal so viele Menschen wie im Vathy-Camp auf Samos – im Moment rund 19.000. Offiziell ist dort Platz für ca. 2.800. Als wir im Camp ankommen, beginnt es gerade in Strömen zu regnen und binnen Minuten wird klar, was es bedeutet, wenn Zehntausende Menschen in einem Olivenhain ihre Zelte aufschlagen müssen. Überall fließt schlammiges Wasser die Hänge hinunter – es bahnt sich seinen Weg an den Zelten vorbei, durch sie hindurch und unterspült sie. An einigen Stellen haben die Bewohner*innen versucht Treppenstufen und kleine Gräben zu bauen, damit sie sicher die Hänge hinunterkommen und das Wasser geregelter abfließen kann. Nichtsdestotrotz wird alles durchnässt. Die Wäsche auf den provisorischen Leinen, die Zelte, die für diese Witterung nicht gemacht sind, die Menschen – und bei der Kälte bleibt auch nach dem Regen alles klamm.
„Jeder verliert die Hoffnung“
Ich laufe mit einem unserer Gesundheitsberater durch das Camp und merke schnell, wie groß auch seine Verzweiflung inzwischen ist. 'Wenn man unter diesen Bedingungen lebt, wo es an allem mangelt, dann verliert jeder die Hoffnung. Ich verliere die Hoffnung. Ich weiß nicht mehr, was ich den Menschen sagen soll, was ich ihnen raten soll. Es wird immer schlimmer und schlimmer und es werden immer mehr Menschen', sagt Alaa Aldin. 'Die Menschen kommen aus Gebieten, wo man auf dem Weg zur Arbeit von einem Scharfschützen beschossen wird, und man kann sich glücklich schätzen, wenn er die Person neben einem trifft und man nur die Leiche sieht. Das ist doch einfach Wahnsinn. Nach all diesen Erfahrungen wenigstens ein Zelt und vielleicht eine Mahlzeit zu haben – das ist einen Versuch wert. Die Menschen haben ihr Haus und ihre Arbeit verloren, Familienmitglieder - Sie haben ihre Zukunft verloren. Was sind ihre Alternativen?'
Nicht nur das Gespräch mit Alaa lässt mich fassungslos zurück. In fast jedem Austausch mit unseren Kolleg*innen vor Ort spiegelt sich wieder, wie schwer es ihnen fällt, auf eine baldige Verbesserung der Lage zu hoffen.
„Sie sind viel stärker, als sie denken - sie sind das Gegenteil von schwach.“
So geht es auch in unserer Klinik in der Stadt Mytilini in der Nähe des Camps, wo Überlebende von sexualisierter Gewalt, Folter oder anderer extremer Gewalt behandelt werden, vor allem darum, den Patient*innen die Kraft zurückzugeben, die sie brauchen, um in dieser Situation zu überleben: 'Wir versuchen, die schlimmsten Symptome zu minimieren', erklärt unser Psychologe Greg Kavarnos. 'Wir können keine langfristigen Therapien anbieten, aber wir versuchen, die Menschen zu stabilisieren, damit sie in dieser furchtbaren Umgebung, in der sie leben, funktionieren können. Wir versuchen ihnen Kraft zu geben, und klarzumachen, dass sie schreckliche Erfahrungen überlebt haben, was sie viel stärker macht als viele andere Menschen. Sie sind viel stärker, als sie denken - sie sind das Gegenteil von schwach.'
Momente der Menschlichkeit
Und dann sind da noch diese zwei kleinen Momente, die keine große Erklärung brauchen, die einfach für sich stehen und von Menschen erzählen, die trotz der schrecklichen Erfahrungen, die sie hier machen, ihre Menschlichkeit und Gastfreundschaft nicht verloren haben.
Als ich mit einer Kollegin durch das Vathy-Camp auf Samos laufe, kommen wir an einigen Syrer*innen vorbei, die sich einen kleinen Ofen gebaut haben und gerade Brot backen. Sofort laden sie uns mit Gesten ein, stehen zu bleiben und überreichen uns ein frisch gebackenes Fladenbrot. Wir versuchen freundlich abzulehnen, haben wir doch gehört, wie wenig Essen die Menschen hier haben und wie schlecht das Essen ist, dass sie offiziell im Camp bekommen. Aber das kommt gar nicht in Frage. Auch wenn wir kaum ein paar Worte miteinander sprechen können ist klar, wir sind herzlich eingeladen, das Brot zu essen. Und so lecker, wie es duftet, so ehrlich ist die Freude der Gruppe, als wir ihr Geschenk annehmen.
In Moria stehen wir nach gut einer halben Stunde Laufen durch den Regen mitten im inoffiziellen Teil des Camps an einem schlammigen unbefestigten Hang, als der Niederschlag noch einmal heftiger wird. Neben uns räumen einige Männer in einem kleinen zusammengezimmerten Shop herum, in dem sie Lebensmittel und Dinge des täglichen Bedarfs verkaufen. Sie winken uns heran und bieten uns an, in ihrem Lagerraum Schutz zu suchen und einen heißen Tee zu trinken. Zwischen leeren Kartons warten wir dort bis der Regen nachlässt. Und während das Wasser die Behausungen der Menschen durchnässt, stehe ich inmitten des Chaos und beginne ich mich zu fragen: Wie konnte das jemals Normalität werden?
Die Antwort ist so einfach wie grausam: Dieses unmenschliche Chaos ist politisch gewollt. Menschen zahlen den Preis für eine bewusste politische Entscheidung. Sie zahlen ihn mit ihrer Würde, ihrer Zukunft und manchmal sogar mit ihrem Leben."