SOS Mediterranee und Ärzte ohne Grenzen fordern von EU-Staaten rasche Zuweisung eines sicheren Hafens
Berlin, 12. August 2018. Ärzte ohne Grenzen und SOS Mediterranee fordern die europäischen Regierungen auf, dem Rettungsschiff Aquarius gemäß internationalem Seerecht einen sicheren Hafen zuzuweisen. Das von den beiden Organisationen betriebene Rettungsschiff hat am Freitag 141 Menschen aus Seenot gerettet.
Die Aquarius hat am Freitag zwei Rettungsaktionen durchgeführt. Vormittags nahm die Besatzung 25 Menschen an Bord, die in einem kleinen Holzboot ohne Motor auf dem Meer drifteten. Sie befanden sich wohl seit fast 35 Stunden auf dem Wasser. Danach rettete die Aquarius 116 Menschen von einem weiteren überfüllten Holzboot, darunter 67 unbegleitete Minderjährige. Mehr als zwei Drittel der Geretteten stammen aus Somalia und Eritrea. Ihr medizinischer Zustand ist stabil, doch zahlreiche Gerettete sind sehr schwach und mangelernährt. Viele berichten, dass sie in Libyen unter unmenschlichen Bedingungen festgehalten worden waren.
Während der Rettungsaktionen hat die Crew der Aquarius alle zuständigen staatlichen Behörden informiert, darunter die Seenotrettungszentralen von Italien, Malta und Tunesien und das libysche „Joint Rescue Coordination Center“ (JRCC), welches bestätigte, es sei die Koordinierungsstelle für die Rettungen. Das libysche JRCC informierte die Crew der Aquarius, es werde ihr keinen sicheren Hafen für die Geretteten zuweisen und wies sie an, bei einer anderen Seenotrettungszentrale danach zu fragen. Libyen selbst kann in keinem Fall als sicherer Ort gelten. Menschen, die in internationalen Gewässern gerettet werden, dürfen nicht nach Libyen zurückgebracht werden, sondern müssen gemäß Völker- und Seerecht an einen sicheren Ort gebracht werden. Die Aquarius fährt nun nach Norden, um von einer anderen Seenotrettungszentrale einen nahe gelegenen sicheren Hafen zugewiesen zu bekommen.
„Wir folgen allen Anweisungen der libyschen Seenotleitstelle und werden nun, wie von ihr gefordert, andere Seenotleitstellen kontaktieren, um einen sicheren Hafen für die Geretteten zugewiesen zu bekommen“, sagt Nick Romaniuk, Rettungskoordinator für SOS Mediterranee. „Das Wichtigste ist, dass die Überlebenden schnellstmöglich an einen sicheren Ort gebracht werden, wo ihre Grundbedürfnisse gedeckt sind und ihnen keine Misshandlungen drohen.“
„Die europäischen Regierungen haben all ihre Energie darauf verwendet, das libysche JRCC aufzubauen. Doch die Ereignisse vom Freitag zeigen, dass es nicht in der Lage ist, Rettungsaktionen vollständig zu koordinieren“, sagt Aloys Vimard, Projektkoordinator von Ärzte ohne Grenzen. „Eine Rettung ist nicht abgeschlossen, bevor die Menschen an einem sicheren Ort an Land gehen können. Doch das libysche JRCC hat uns klar gesagt, dass es uns keinen sicheren Ort zuweisen wird. Außerdem hat es die Aquarius nicht über Seenotfälle informiert, von denen es wusste, obwohl wir ganz in der Nähe waren und Hilfe angeboten hatten. Es war eine sehr glückliche Fügung, dass wir diese Boote in Seenot selbst gesichtet haben.“
Die Geretteten berichteten den Teams auf der Aquarius, dass sie auf See zuvor fünf verschiedenen Schiffen begegnet waren, die keine Hilfe geleistet hätten. „Das ist verstörend“, erklärt Vimard. „Offenbar ist nun das grundlegende Prinzip zur Hilfe bei Seenotfällen in Gefahr. Schiffsbesatzungen schrecken möglicherweise vor Hilfe zurück, weil sie damit ein hohes Risiko eingehen, anschließend auf offenen Meer festzusitzen und keinen sicheren Ort zugewiesen zu bekommen, an den sie die Geretteten bringen können. Eine Politik, die Menschen um jeden Preis von Europa fernhalten will, vergrößert so das Leid und zwingt bereits sehr verletzliche Menschen auf noch gefährlichere Wege, um Sicherheit zu finden.“
Ärzte ohne Grenzen und SOS Mediterranee sind äußerst besorgt über die Politik der europäischen Regierungen, die die humanitäre Hilfe auf See behindert und die die Todeszahlen im Mittelmeer in den vergangenen Monaten nach oben schnellen ließ. Die Aquarius ist nun eines von nur noch zwei verbliebenen humanitären Rettungsschiffen im zentralen Mittelmeer. Die Kriminalisierung und Behinderung humanitärer Organisationen ist eine Folge des größeren Problems eines kaputten europäischen Asylsystems und des Versagens der EU-Staaten, Asylsuchende innerhalb Europas umzusiedeln.
„Die Bundesregierung trägt durch ihre aktive Unterstützung der so genannten libyschen Küstenwache dazu bei, dass Menschen in einem unmenschlichen System von Ausbeutung und Gewalt in Libyen gefangen bleiben. Zu Tausenden werden Menschen mit EU-Unterstützung nach Libyen zurückgebracht, oder sie haben gar nicht die Möglichkeit, von dort zu fliehen“, sagt Philipp Frisch von Ärzte ohne Grenzen in Deutschland. „Die Bundesregierung muss zumindest auf ihre europäischen Partner einwirken, ihre Häfen für die aus Seenot geretteten Menschen zu öffnen, und auch ihre eigene Bereitschaft zur Aufnahme der Geflüchteten bekunden. Wir erwarten, dass sich die Bundesregierung ihrer humanitären Verantwortung wieder bewusst wird und endlich anfängt, sich entschlossen gegen die Kriminalisierung von Flucht und humanitärer Hilfe zu positionieren.“
Alle aktuellen Informationen zu den Rettungseinsätzen der Aquarius und ihrer Interaktion mit staatlichen Behörden finden Sie hier:
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Informationen zu den Zuständen in den libyschen Internierungslagern, in die die libysche Küstenwache auf dem Mittelmeer abgefangene Menschen bringt, finden Sie hier.