Ärzte ohne Grenzen: Ungarn muss Gewalt gegen Migranten beenden
Berlin, 28. Juli 2016. Seit der Schließung der Grenzen auf der Balkanroute im März beobachten die Teams von Ärzte ohne Grenzen in Serbien, dass die verbliebenen Flüchtlinge und Migranten zunehmend Opfer von Gewalt werden. Zahlreiche Patienten berichteten den Mitarbeitern von Gewaltvorfällen, die oftmals durch ungarische Staatsangestellte begangen wurden bevor sie nach Serbien zurückgeschoben wurden.
„In den vergangenen Monaten hat eine zunehmende Anzahl unserer Patienten von Vorfällen von Gewalt und körperlichem Missbrauch berichtet. Auch die Zahl der Menschen mit physischen Spuren von Gewalt ist gestiegen. Nach den Berichten unserer Patienten gingen viele dieser Gewaltvorfälle von ungarischen Beamten aus“, sagt Simon Burroughs, Landeskoordinator von Ärzte ohne Grenzen in Serbien. „Wir verurteilen den Gebrauch überzogener Gewalt auf das Schärfste. Wir fordern die ungarischen Behörden dringend auf, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, damit das aufhört.“
Ärzte ohne Grenzen ist in Belgrad und an der serbisch-ungarischen Grenze tätig und bietet Flüchtenden, die in Serbien festsitzen, medizinische und psychologische Hilfe. Zu den psychologischen Problemen gehören neben Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit und Traumatisierungen auch Gewalterfahrungen entlang der Fluchtroute. Insgesamt haben die Teams in Serbien seit April 510 Personen psychologisch betreut. Unter diesen Patienten waren 188 Flüchtlinge und Migranten, die von körperlicher Misshandlung, Inhaftierung, Entführung und sexueller Gewalt berichteten, die sie durch Schlepper, Polizisten oder andere Flüchtlinge und Migranten erlitten haben. Der Anteil der Patienten mit solch traumatischen Erfahrungen hat sich seit März mehr als verdoppelt. Von den Betroffenen – unter ihnen auch Frauen und Kinder – berichten 65 Prozent, dass ihnen die Gewalt von Uniformierten auf ungarischem Territorium widerfahren sei. 35 Prozent berichten, die Gewalt sei von anderen Personen verursacht worden, z.B. bei Raubüberfällen, von Schmugglern oder anderen Migranten.
Die Teams von Ärzte ohne Grenzen in Serbien beobachten, dass die Restriktionen an den Grenzen die humanitäre und medizinische Situation der Menschen verschlechtert hat. In den vergangenen Monaten wurde die Möglichkeit, Asyl in Ungarn zu beantragen, drastisch eingeschränkt. Derzeit werden an zwei Grenzübergängen höchstens 30 Asylanträge pro Tag angenommen.
Anfang Juli erreichte die Zahl der Asylanträge durch eine neue Grenzschutzpolitik einen neuen Tiefstand. Der Grund dafür ist, dass Grenzkontrollen auf ein Gebiet von bis zu acht Kilometern hinter der Grenze ausgedehnt wurden, was de facto zu Zurückweisungen („Push-Backs“) von Asylsuchenden aus Ungarn nach Serbien ohne Zugang zum Asylverfahren führt.
„Wir sind äußerst besorgt, dass diese neuen Maßnahmen der ungarischen Behörden zu mehr Gewalt gegen Migranten führen werden. Die Menschen werden immer stärker wie Kriminelle behandelt“, erklärt Burroughs.
„Ich habe die Grenze zu Ungarn in der Nacht auf den 14. Juli gemeinsam mit einer Gruppe von zehn Afghanen überquert. Um 2 Uhr früh wurden wir von der ungarischen Polizei aufgegriffen, als wir uns etwa 20 Kilometer innerhalb Ungarns befanden“, berichtete ein 16-jähriger Afghane am 15. Juli einem Team von Ärzte ohne Grenzen in Belgrad. „Sie schlugen uns und besprühten uns mit Pfefferspray, obwohl unsere Hände am Rücken gefesselt waren und wir uns nicht wehren konnten. Mein linkes Ohr ist angerissen, weil sie mich mit einem Knüppel auf den Kopf schlugen. Sie haben mich überall am Körper geschlagen und getreten, auch in meinen Schritt.“
Die neuen Restriktionen durch Ungarn haben auch zu einer besonders besorgniserregenden Situation in den Transitzonen an der Grenze zwischen Serbien und Ungarn geführt. Mehrere mobile Teams von Ärzte ohne Grenzen leisten den Menschen dort medizinische und psychologische Hilfe und stellen grundlegende Sanitäreinrichtungen zur Verfügung.
„Die Lebensbedingungen an der Grenze sind für Menschen ungeeignet. Familien leben in untauglichen Zelten. Sie haben keine Duschen, kein sauberes Wasser und keinen Zugang zu grundlegender Versorgung", sagt Burroughs. "Obwohl wir die serbischen Behörden seit Monaten auffordern, die Bedingungen zu verbessern, hat sich kaum etwas getan. Die Menschen sind verzweifelt, und das wirkt sich direkt auf ihre körperliche und geistige Gesundheit aus."