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„Als Hebammen in Afghanistan sind wir die stille Führung unseres Landes"

2014 eröffneten wir im öffentlichen Krankenhaus Dasht-e-Barchi in Kabul eine Entbindungsstation. Am 12. Mai 2020 griffen bewaffnete Männer die Station an – mit dem alleinigen Ziel, Mitarbeiter*innen und Mütter zu töten. Die Folgen des Angriffs waren entsetzlich: 24 Menschen wurden getötet, darunter 15 Mütter, von denen fünf mit ihren Babys kurz vor der Geburt standen.  Auch unsere Hebamme Maryam Noorzad wurde bei dem Angriff getötet, ebenso wie zwei Kinder im Alter von sieben und acht Jahren. Weitere 20 Personen wurden verletzt. Unsere leitende Hebamme in Dasht-e Barchi, Sahra Kootschisad, berichtet:

„Als Hebammen in Afghanistan bringen wir neues Leben in dieses Land – unter schwierigeren Bedingungen als in den meisten anderen Ländern. Jährlich werden weltweit etwa 130 Millionen Babys geboren*. Das bedeutet, dass es auch Millionen von Frauen gibt, die Hilfe während der Schwangerschaft und Geburt benötigen. Die Geburt ist in meinen Augen einer der wunderbarsten und zugleich kritischsten Momente im Leben einer Frau.

Meine Leidenschaft, neues Leben in die Welt kommen zu sehen, und mein starker Wunsch, meinem eigenen Volk zu dienen, haben mich dazu bewogen, Hebamme zu werden. Das kommt sicherlich auch daher, dass viele in meiner Familie dieser Berufung nachgehen. Einige meiner Tanten und Cousinen arbeiten ebenfalls als Hebammen in verschiedenen Krankenhäusern in Kabul. Sie wählten diesen Beruf auch aus dem Wunsch heraus, dem eigenen Land zu dienen, und weil sie lernten, dass die meisten Frauen in Afghanistan, die bei der Geburt sterben, an vermeidbaren Komplikationen sterben.

„Wir sind an Tragödien in unserer Gemeinschaft gewöhnt, aber nichts hätte uns auf dieses Grauen vorbereiten können“

Trotz einiger Verbesserungen in den letzten Jahren hat Afghanistan eine der höchsten Mütter- und Säuglingsterblichkeitsraten der Welt. Spezialisierte Geburtsversorgung ist überlebenswichtig. In der Schweiz sterben fünf Mütter pro 100.000 Lebendgeburten. In Afghanistan springt diese Zahl auf 638 Mütter, die bei der Geburt sterben. Darin nicht eingeschlossen sind die 15 Mütter und fünf ungeborenen Babys, die vor einem Monat auf der Entbindungsstation, auf der ich arbeite, systematisch erschossen wurden.

Eine der größten Herausforderungen, mit denen jede Hebamme und jede schwangere Frau in Afghanistan konfrontiert ist, ist die Unsicherheit. Ich habe dies schmerzhaft aus erster Hand erfahren müssen.

Ich bin die leitende Hebamme auf der Entbindungsstation des Krankenhauses Dasht-e-Barchi in Kabul. Der Anschlag dort ereignete sich am 12. Mai. Ich erinnere mich an diesen Tag. Wir hatten sehr schönes Wetter, die Luft war frisch und alles fühlte sich friedlich an, als ich das Krankenhaus betrat. Als ich ankam, sah ich meine Kolleg*innen bei der Arbeit; alle waren motiviert und entschlossen, einen neuen Tag zu beginnen, an dem wir schwangeren Frauen in Not helfen. Wir sind an Tragödien in unserer Gemeinschaft gewöhnt, aber nichts hätte uns auf dieses Grauen vorbereiten können.

„Die Terroristen drangen in einen Bereich ein, den kein Mann je betreten darf“

In Afghanistan ist eine Entbindungsstation einer der wenigen Räume, in denen Frauen die Führung haben. Die Terroristen drangen in einen Bereich ein, den kein Mann je betreten darf. Sie stürmten, bewaffnet mit Gewehren, den Entbindungsflügel und töteten schwangere Frauen, Frauen, die gerade Mutter geworden waren und Neugeborene. Ihr Anführer muss sehr stolz sein; er feiert einen Sieg über eine Armee neugeborener Babys und Frauen, die nur mit ihrer Krankenhauskleidung bekleidet waren.

Ein Krankenhaus soll ein geschützter Raum sein. So steht es im humanitären Völkerrecht, und doch ist der Angriff auf meine Entbindungsstation kein Ausnahmefall - Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen kommen hier häufig vor. Aber was unterscheidet diesen Angriff von allen anderen?

Es ist dies: Als Hebammen in Afghanistan sind wir die stille Führung unseres Landes. Wir stehen an den Betten schwangerer Frauen, die die Zukunft des Landes zur Welt bringen, und wir müssen geschützt werden. Eine Entbindungsstation wie die meine zu schützen, bedeutet, unsere Zukunft zu sichern, zusammen mit den Hebammen, die dort arbeiten. Hebammen wie unsere geliebte Maryam, die auf die unfassbarste Weise getötet wurde, als sie werdenden Müttern bei der Geburt half.

Mehr als eine Million Menschen ohne Geburtshilfe und Säuglingsversorgung

Am Tag des vierstündigen Angriffs auf die Entbindungsstation von Dasht-e-Barchi griffen die Terroristen nicht nur schwangere Frauen und Neugeborene an, sondern auch die jahrzehntelange Arbeit zur Senkung der Mütter- und Säuglingssterblichkeit in Afghanistan. Aufgrund dieses Angriffs haben die mehr als eine Million Einwohner*innen des westlichen Kabuls sowie Frauen, die aus weit entfernten Provinzen kommen, keinen Zugang mehr zu einer umfassenden Geburtshilfe und Säuglingsversorgung.

Ihre einzige Option ist jetzt ein nahegelegenes Krankenhaus mit 50 Betten. Doch mit nur sieben Betten für Geburten weiß ich nicht, ob die schwangeren Frauen, die dorthin oder in andere Krankenhäuser gehen, so versorgt werden, wie sie es benötigen. Werden sie die Hilfe erhalten, die sie brauchen? Werden sie die Mittel haben, um die Krankenhausleistungen zu bezahlen? Werden sie die Geburt überleben, wenn sie gar nicht erst in ein Krankenhaus eingeliefert werden?

Ich habe Angst davor, daran zu denken, was mit den Frauen geschieht, die sonst zu uns gekommen wären.

Großteil der Patientinnen gehört zur marginalisierten Gruppe der Hazara

Die meisten Patientinnen, die nach Dasht-e-Barchi kommen, gehören der Hazara-Gemeinschaft** an und haben nicht die Mittel, ihre Behandlung an anderen Orten zu bezahlen. Einige der Frauen kommen in schrecklichem Zustand ins Krankenhaus.

Ich kann mich besonders an eine Patientin erinnern. Sie kam zum ersten Mal zu uns; sie konnte kaum gehen und war sehr blass. Sie kam aus einem Gebiet am Rande von Kabul. Ich untersuchte sie und stellte fest, dass sie an schwerer Blutarmut litt. Dort, wo sie lebte, gab es keine Schwangerschaftsversorgung. Da ihr das Geld fehlte, um Lebensmittel zu kaufen, aß sie nicht richtig und als ich sie fragte, wann sie zuletzt gegessen hatte, antwortete sie mit „gestern“. Es brach mir das Herz, als ich das hörte. Umso glücklicher war ich, als ich sah, wie sie sich erholte und ein gesundes Baby zur Welt brachte. Ihre Geschichte ist nur eine von Tausenden Geschichten, die die Lebensrealität der Patientinnen in der Region von Dasht-e-Barchi beschreibt. Einige Patientinnen kamen ins Krankenhaus und hatten kein Geld, um nach Hause zurückzukehren.

„Nie war der Bedarf an Gesundheitsversorgung so groß wie heute“

Ich bin verletzt, mein Leben hat sich verändert, aber ich bin nach wie vor entschlossen, meine Arbeit fortzusetzen. Ich weiß, dass mein Volk uns Hebammen braucht und hoffe, dass ich mit der Unterstützung von Ärzte ohne Grenzen wieder auf die Beine komme. Ich kann all jene Patient*innen nicht vergessen, die eine helfende Hand und eine gute Versorgung brauchen.

Ich empfinde tiefe Dankbarkeit für all die Patient*innen, die unsere Freund*innen geworden sind und für mich gebetet haben. Ich möchte sie nicht enttäuschen, vor allem jetzt nicht, wo viele auch unter der Covid-19-Pandemie leiden.

Ich sehe, wie unser Volk unter immer größeren Problemen leidet, in einer Situation, die bereits kritisch ist - nie war der Bedarf an Gesundheitsversorgung so groß wie heute.“

* The World Counts, 2020

** Die Hazara-Gemeinschaft [eine persischsprachige ethnische Gruppe in Afghanistan], im Westen Kabuls, ist eine historisch marginalisierte und immer noch arme Bevölkerung, die aufgrund des jahrzehntelangen anhaltenden Konflikts aus ihren ursprünglichen Häusern in den Bergen vertrieben wurde. Vor allem in den letzten zehn Jahren ist die anfangs kleine Hazara-Gemeinschaft in Kabul stark gewachsen.