An der Belastungsgrenze: Geflüchtete Rohingya
Seit Jahren leben Hunderttausende Angehörige der ethnischen Minderheit der Rohingya in überfüllten Geflüchtetencamps in Bangladesch. Vollständig von humanitärer Hilfe abhängig und ohne die Hoffnung auf einen legalen Aufenthaltsstatus ist ihre Siuation ohnehin schon schwierig, die Covid-19-Pandemie und damit einhergehende Einschränkungen des täglichen Lebens haben die Situation noch einmal deutlich verschärft. Der tägliche Kampf um eine grundlegende Versorgung hat die Spannungen erhöht und in jüngster Zeit zu Gewalt zwischen einzelnen Rohingya-Gruppen geführt. Auch die mentale Gesundheit der Menschen verschlechtert sich zunehmend.
„Niemand möchte Geflüchtete*r sein. Das Leben hier ist nicht einfach”, sagt Faruk*. „Wir leben in einem offenen Gefängnis. Das Leben für geflüchtete Menschen ist die Hölle und jeder Tag ist gleich. Manchmal beiße ich mich selbst, um zu spüren, ob ich noch etwas fühle. Ich habe auch schon einen Suizidversuch hinter mir”, fügt er hinzu. Faruk ist aus Myanmar nach Bangladesch geflüchtet und lebt in einem Geflüchtetencamp von Cox’s Bazaar. Mit seinen Gefühlen ist er nicht allein.
Unsicherheit und Willkür schüren Ängste
Immer wieder gab es Gerüchte, dass einige Geflüchtete von Cox’s Bazar nach Bhasan Char verlegt werden sollen, um die Überfüllung der Geflüchtetencamps zu reduzieren. Bhasan Char ist eine Sedimentmasse, die 30 Kilometer vom Festland entfernt eine „Insel” gebildet hat. Laut den Behörden hat die Insel Kapazitäten für bis zu 100.000 Menschen. Im Dezember 2020 wurden die Gerüchte zur Realität. Mehr als 1.600 Menschen wurden nach Bhasan Char gebracht. Über die Bedingungen vor Ort ist kaum etwas bekannt. Unabhängige humanitäre Hilfsorganisationen – die UN eingeschlossen – hatten bisher keinen Zugang zu dem Gelände.
Zudem ist vor kurzem ein Feuer im Nayapara Camp ausgebrochen, einem Teil von Cox’s Bazar. Es hat etwa 550 Unterkünfte zerstört, in denen rund 3.500 geflüchtete Menschen lebten. Auch wenn es keine Todesopfer und nur wenig Verletzte gab: Die Erschütterung des täglichen Lebens für die Bewohner*innen war groß.
Psychische Belastungen entladen sich in Gewalt und Konflikten
Die Bedrohung durch Brände und die Angst vor einer Verlegung nach Bhasan Char fallen seit Beginn der Covid-19-Pandemie mit dem Ausbleiben medizinischer Versorgung und fehlenden Essens- und Wasserausgaben von humanitären Organisationen zusammen, die einer Ausbreitung des Coronavirus entgegenwirken wollen. Das alles führt zu großer Anspannung und enormem Stress unter den Bewohner*innen der Geflüchtetencamps und entlädt sich immer wieder in Form von Gewalt.
Auch Asiya* ist ängstlich, als sie an unserem Krankenhaus in Kutupalong ankommt. Sie muss mit jemanden darüber sprechen, was sie im Oktober während eines 12-tägigen Konflikts zwischen zwei Gruppen der Rohingya in den Camps miterlebt hat. Mit zitternder Stimme beschreibt sie die Gewalt, von der sie Zeugin wurde. „Ich habe mich in der Küche mit meinen Kindern versteckt, damit uns niemand angreifen konnte,” sagt sie. „Als die Gewalt in den Camps ausbrach, waren keine Männer zu Hause. Wir hörten die Schüsse und verhielten uns ruhig, verschlossen alle Türen. Wir waren ängstlich und standen unter Schock.” Nach der Gewalt verließen viele Familien ihre Unterkünfte und zogen in andere Teile des Camps, die nicht von den Konflikten betroffen waren. Unser Team sprach mit traumatisierten Menschen, die sogar Angst davor hatten, in Krankenhäuser, Gesundheitsämter oder Kliniken zu gehen – für grundlegende medizinische Versorgung.
Hoffnung dank dem Gefühl von Sicherheit
Kathy Lostos, Beraterin für mentale Gesundheit, glaubt, dass die Situation trotz der Eskalationen nicht hoffnungslos ist: Es gibt Maßnahmen, die die Situation für die Menschen in den Camps verbessern können - und damit auch ihre mentale Gesundheit. „Das beste Mittel für die Verbesserung der psychischen Gesundheit ist die Widerherstellung des Gefühls von Sicherheit”, sagt sie. „Ein gewisses Maß an Kontrolle über die eigene Zukunft ist ein Faktor, der Sicherheit gibt. Das beinhaltet beispielsweise, die Gemeinschaften in Entscheidungen mit einzubeziehen und ihnen das Gefühl zu geben, dass sie ihre Zukunft aktiv mitgestalten können. So können wir langfristige Auswirkungen von Traumata abmildern.”
Auch Faruk versucht trotz der zahlreichen Schwierigkeiten in den Camps positiv zu bleiben: „Ich habe viele Träume”, sagt er. „Ich möchte andere Orte bereisen und kennenlernen. Ich möchte in meine Heimat in Arakan zurück [Anm. d. Red.: Im Rakhine Staat in Myanmar], vorausgesetzt, wir bekommen Rechte und Gerechtigkeit.”
*Die Namen der Patient*innen wurden auf Wunsch geändert.
In den Camps von Cox’s Bazar bieten wir seit 2009 psychologische und psychosoziale Unterstützung für Geflüchtete an. Unsere Teams vor Ort leisten individuelle, Familien- und Gruppen-Beratungsgespräche, bei denen sich Spezialist*innen für psychische Gesundheit vor allem auf die Bewältigungsmechanismen und Widerstandsfähigkeit der Menschen konzentrieren. Die starke Belastung der geflüchteten Rohingya zeigt sich in der Zunahme der Inanspruchnahme von psychischen Gesundheitsleistungen im Vergleich zum letzten Jahr, die von unseren Mitarbeiter*innen in Cox’s Bazar erbracht wurden. Unsere Zahlen zeigen einen Anstieg von 61 % gegenüber dem Vorjahr. Von Januar bis Dezember 2020 haben unsere Mitarbeiter*innen 36.027 Gruppenberatungen und 32.336 Einzelberatungen angeboten. Im Jahr 2019 haben wir im gleichen Zeitraum 20.724 Gruppen- und 21.297 Einzelberatungen abgehalten.