Ein Jahr nach der Vertreibung leben Hundertausende Rohingya unter schwierigsten Bedignungen - Abu Ahmad erzählt seine Geschichte
Mehr als 700.000 Rohingya sind seit dem 25. August 2017 von Myanmar nach Bangladesch geflohen. Ein Jahr nach ihrer massenhaften Vertreibung leben sie unter unsicheren, gesundheitsgefährdenden Bedingungen im inzwischen größten Flüchtlingslager der Welt. Erschwert wird ihre Lage durch die anhaltende Regenzeit: Die behelfsmäßigen Behausungen halten dem Monsun oft nicht stand, überflutete Latrinen werden zur Gesundheitsgefahr. Es gab bereits Tote durch abgerutschte Hänge und Überflutungen.
Eine Bewohnerin des Megacamps ist die 11-jährige Rukia. Im vergangenen August - kurz vor Ausbruch der Gewalt in Myanmar – trat bei ihr eine Lähmung auf. Nach der Flucht mit ihrer Familie nach Bangladesch verbrachte Rukia über sieben Monate in unserer medizinischen Einrichtung in Kutupalong. Alle paar Tage kehrt sie in die Einrichtung zurück, um ihre wundgelegenen Stellen behandeln zu lassen. Ihr Vater Abu Ahmad hat uns von der Flucht der Familie, dem Leben in Bangladesch und seinen Hoffnungen für die Zukunft erzählt:
Die Flucht aus Myanmar
„Bevor der Konflikt begann, besaßen wir Kühe, Ziegen, Land - all diese Dinge. Unsere Lebensgrundlage verdienten wir uns selbst. Von der Regierung in Myanmar wurden wir mit Drohungen und Folter konfrontiert. (…) Dann begann der Konflikt: Kämpfe, Messerangriffe und das in Brand setzen von Häusern. (…) Eines Nachts rief ich all meine Kinder zusammen, um zu besprechen, wie wir mit dieser Situation umgehen. Wir hatten nicht viel Hoffnung. Denn egal wie wir gehandelt hätten, wir wären immer der Gefahr ausgesetzt gewesen, verhaftet zu werden. (…) Es blieb meiner Frau und mir keine andere Wahl, als mit Rukia nach Bangladesch zu fliehen.
Nachdem wir das Haus verlassen hatten, waren in unserem Dorf überall Regierungsleute mit Waffen. Wir wanderten meilenweit durch die Berge und heuerten Männer an, die Rukia trugen. Spät in der Nacht sind wir dann endlich an der Küste gegenüber von Bangladesch angekommen. Als wir schließlich ein Boot sahen, warteten bereits rund 20 bis 30 andere Menschen mit uns am Ufer. Der Kapitän brachte uns alle sicher nach Bangladesch. Als wir ankamen, warteten die Grenzpolizisten. Sie begrüßten uns und gaben uns Nahrung, Wasser und Kekse. Am Morgen danach brachten sie uns mit einem Bus in das Flüchtlingslager Kutupalong.
Ich war besorgt, als wir aus dem Bus ausstiegen. Wir waren noch nie zuvor in Bangladesch. Ich wusste nicht, wohin ich meine kranke Tochter bringen sollte. Daher fragte ich jeden, den ich sah. Die Leute erzählten uns von der medizinischen Einrichtung von Ärzte ohne Grenzen in Kutupalong. Die Ärzte dort nahmen Rukia aus meinen Armen und behandelten sie. Fast siebeneinhalb Monate verbrachte sie im Krankenhaus – dort wurden Röntgenaufnahmen gemacht und sie erhielt Bluttransfusionen. Täglich wurde ihr Gesundheitszustand beobachtet. Zudem erhielten wir regelmäßig Mahlzeiten.
Leben in Bangladesch
Als ich Rakhine mit meiner Frau und Rukia verließ, waren die Dinge noch nicht so schlimm. Es wurde viel schlimmer als wir es jemals für möglich gehalten hätten. Nach meiner Ankunft in Kutupalong wusste ich nicht, was mit meinen sieben Kindern geschehen war. Andere Leute erzählten uns, dass unser Haus angezündet worden und unsere Kinder geflohen seien. Wir hatten kein Telefon oder irgendeine andere Möglichkeit, sie zu kontaktieren. Wir waren extrem besorgt. Nach einiger Zeit hörten wir, dass sie in Bangladesch angekommen waren und nach uns suchten. Sie schafften es nach Kutupalong und fanden uns in der Einrichtung von Ärzte ohne Grenzen. Als ich nach zwei Monaten endlich wieder mit ihnen vereint war, verspürte ich das erste Mal ein Gefühl von Beruhigung. Ich war so glücklich, meine Kinder wieder zu haben. Ich fühlte mich, als hätte ich meine Welt zurück.
Die Regierung gab uns Holz, Bambus und Plastikplanen, um hier ein Haus zu bauen. Wir bekommen Rationen von Öl, Reis und Dhal (Linsen). Durch den Verkauf von Dhal und Öl verdienen wir zwischen 100-200 Taka (1-2 Euro). Davon müssen wir einen Monat lang überleben. Wir haben kein Einkommen. Wenn wir arbeiten könnten, wäre das Leben einfacher.
Die Situation mit Rukia im Camp ist sehr schwierig. Weil sie selbst nicht mehr laufen kann, müssen wir sie aus dem Lager alle paar Tage ins Krankenhaus bringen. Der Weg vom Haus zur Straße ist beschwerlich. Das Lager besteht aus so vielen Hügeln, und ich muss die Kleine in meinen Armen tragen, bis ich sie den Rest des Weges mit einem Rollstuhl schieben kann. Für den Bau unseres Hauses konnte ich keinen flachen Platz im Lager finden. Wenn ich Geld hätte, könnte ich sie mit dem Bus ins Krankenhaus bringen und diese Strapazen vermeiden.
Im Krankenhaus wurden so viele Tests und Behandlungen durchgeführt, aber wir wissen immer noch nicht, warum Rukia gelähmt ist. Ich bete immer zu Gott, dass er ihr hilft, wieder zu gehen. Rukia wünscht sich, dass ich sie ins Ausland bringe, damit sie behandelt werden und studieren kann. Wenn sie solche Dinge sagt, werde ich traurig. Ich fühle mich dann beunruhigt und gestresst. Ich mache mir viele Sorgen, Sorgen um die Zukunft. Ich denke über Nahrung, Kleidung, Frieden und unser Leiden nach. Wenn Rukia sich bewegen könnte, wäre sie glücklicher. Sie bittet mich, sie im Rollstuhl herumzuschieben, aber weil das Lager so hügelig ist, kann ich das nicht tun.
Wir werden nach Myanmar zurückkehren
Wir sind nicht staatenlos, wir sind immer noch aus Myanmar. Unsere Vorfahren sind von dort; unsere Urgroßväter wurden dort geboren. Das Land, in dem unsere Nabelschnur durchtrennt wurde, ist Myanmar. Wir werden zurückkehren, wenn dort wieder Frieden herrscht – aber nur unter bestimmten Bedingungen: Wenn wir unsere Freiheit zurückbekommen und unser Haus, Land und Vieh. Wir sind bereit, in unser Land zurückzukehren, aber wie können wir zurückgehen, solange dort noch Konflikte herrschen?"