„Viele Familien auf der Balkanroute sind völlig erschöpft“
Seit dem Sommer 2015 leistet Ärzte ohne Grenzen den Flüchtlingen an der mazedonisch-serbischen Grenze medizinische und humanitäre Hilfe. Noch immer überqueren jeden Tag 1.000 bis 3.000 Flüchtlinge aus Syrien, dem Irak und Afghanistan bei eisigen Temperaturen bis zu minus 20 Grad die Grenze. Stefan Cordes, Projektleiter von Ärzte ohne Grenzen im Süden Serbiens, berichtet über die aktuelle Situation.
"Der harte Winter in Serbien hat oft dramatische Folgen für die Menschen. An manchen Tagen hat es bis zu minus 20 Grad. Mittlerweile kommen fast ausschließlich Familien über die Grenze. Es sind sehr viele Kinder darunter. Unsere Ärzte behandeln sehr oft Atemwegsinfektionen und Darminfektionen, jedoch auch Frostbeulen. Wir hatten Patienten mit abgefrorenen Zehen, weil die Menschen wochenlang auf der Flucht waren, bei der sie manchmal bei Minusgraden auf Schleichwegen über Berge kamen. Immer wieder sehen unsere Ärzte Spuren von Misshandlungen, die ihnen auf der Flucht oder im Ursprungsland zugefügt wurden.
Viele Menschen sind völlig erschöpft. Vergangene Woche hat es sogar einen Todesfall an der Grenze gegeben: Ein älterer Mann ist kurz hinter der Grenze zusammengebrochen, als man ihn per Bus zum Registrierungszentrum in Presevo bringen wollte. Höchstwahrscheinlich war es Herzversagen. Unser Team wurde sofort zu Hilfe gerufen und hat verzweifelt versucht, ihn wiederzubeleben und ins Krankenhaus zu bringen, aber er ist verstorben. Dass es zu solchen Vorfällen kommen kann, ist auch eine Folge der ungenügenden Aufnahmebedingungen der europäischen Staaten auf der Balkanroute.
Balkanstaaten lassen Flüchtlinge aus Syrien, dem Irak und Afghanistan über die Grenze – alle anderen stecken mitten im Winter fest
Seit November lassen die Balkanstaaten nur noch Flüchtlinge aus Syrien, dem Irak und Afghanistan über die Grenzen. Alle anderen stecken mitten im Winter fest - meist schon an der griechisch-mazedonischen Grenze, aber manchmal auch in Presevo oder an der serbisch-kroatischen Grenze in Sid. Auch in Presevo sind schon einige gestrandet, die nicht in Serbien bleiben wollen und um die sich bislang niemand kümmert. Viele versuchen, die Grenzen trotzdem irgendwie zu überqueren, auf gefährlicheren Wegen und wohl mit der Hilfe von Schleppern. Es ist kaum möglich, diese Menschen zu erreichen - wir beobachten aber, dass sich einige bis Belgrad durchschlagen und dort stranden. Vor November gab es in der serbischen Hauptstadt kaum Flüchtlinge, weil die allermeisten auf direktem Weg an die kroatische Grenze gefahren sind.
Die Zahl der Menschen, die täglich die Grenze passieren, schwankt derzeit zwischen 1.000 und 3.000. Vor ein paar Monaten waren viele junge Männer darunter, jetzt sind es fast ausschließlich Familien. Noch immer müssen fast alle zu Fuß mehrere Kilometer über die Grenze laufen - auch bei Regen und Schnee. Der Weg führt über einen schlammigen Feldweg. Immer wieder ist es dabei zu Unfällen gekommen. Wir hatten zum Beispiel Babys in unserer Klinik, deren Mütter ausgerutscht und auf sie gefallen waren. Unsere Teams haben daraufhin eineinhalb Kilometer des Weges durch einen Belag aus gepresstem Kies ausgebessert - jetzt ist er zumindest nicht mehr ganz so schlammig und rutschig. Wir haben weiterhin Kleinbusse im Einsatz, die zumindest die Schwächsten wie Rollstuhlfahrer, Schwangere und Familien mit kleinen Kindern ab der Kontrollstelle transportieren können. Und wir dringen darauf, dass mehr Transportmöglichkeiten erlaubt werden. Wir planen jetzt auch eine Beleuchtung zu installieren, denn die Züge aus Mazedonien kommen rund um die Uhr an, und die Familien überqueren die Grenze oft nachts.
Flüchtlinge behandeln, beheizte Zelte aufstellen, Hilfsgüter verteilen …
Auch sonst versuchen wir, die Bedingungen für die verletzlichsten Flüchtlinge möglichst zu verbessern. Zwei medizinische Teams behandeln im Wechsel die Flüchtlinge an dem von der Regierung betriebenen Lager direkt an der Grenze und an der Registrierungsstelle in Presevo. Wir haben beheizte Zelte für die Wartenden aufgestellt und Toiletten und Wasserstationen eingerichtet. In den kommenden Tagen werden wir damit beginnen, zusammen mit zwei mazedonischen Organisationen schon im Bahnhof von Tabanovce in Mazedonien Hilfsgüter zu verteilen. Jetzt werden wir die Familien - und vor allem die Kinder - bei der Ankunft mit Schuhen, Kleidung und zum Beispiel Taschenlampen versorgen. Aber wenn es schneit und kalt und rutschig ist, ist die Situation für die Familien noch immer schlimm."