Offener Brief von Ärzte ohne Grenzen anlässlich des G20-Treffens der Gesundheitsminister
In unseren medizinischen Einsätzen stoßen die Teams von Ärzte ohne Grenzen jeden Tag auf zahlreiche Hindernisse, wenn wir Menschen in Not medizinisch und mit Würde versorgen wollen. Deshalb begrüßen wir die Entscheidung der G20, „globale Gesundheit“ auf die Agenda zu setzen. Wir rufen die G20-Staaten dazu auf, das Wohlergehen kranker und verwundeter Menschen überall auf der Welt in den Fokus ihrer Bemühungen zu stellen, anstatt sich von den empfundenen Sicherheitsbedrohungen in Form von Epidemien und anderen medizinischen Problemen ablenken zu lassen. Wir glauben, dass die G20-Staaten besonders auf drei Bereiche achten sollten.
Angriffe auf medizinische Einrichtungen
Vom Jemen bis Syrien, vom Südsudan bis Afghanistan und darüber hinaus werden Gesundheitseinrichtungen von staatlichen und nicht-staatlichen Konfliktparteien geplündert, verbrannt und bombardiert. Angriffe auf zivile medizinische Einrichtungen, einschließlich direkten Beschuss und Luftangriffe auf Krankenhäuser und Kliniken durch staatliche Akteure, erscheinen in einigen Kontexten als eine bewusste Kriegsstrategie. Diese Angriffe haben zum Tod von Tausenden von Zivilisten geführt, darunter Patienten, Ärzte und Krankenpfleger. Und sie entziehen der betroffenen Bevölkerung die grundlegende Gesundheitsversorgung dort, wo sie am meisten gebraucht wird. Vor einem Jahr hat der UN-Sicherheitsrat einstimmig die Resolution 2286 zum Schutz von medizinischen Einrichtungen unterstützt. Aber vor Ort hat sich nichts verändert. Im Rahmen der G20 diskutieren Sie die Stärkung von Gesundheitssystemen, aber Sie sollten darüber sprechen, wie die absichtliche Zerstörung von Gesundheitssystemen gestoppt werden kann. Es kann nicht länger gewartet werden. Wir rufen die G20 dazu auf, sicher zu stellen, dass die Resolution 2286 in konkrete Maßnahmen in Kriegsgebieten übersetzt wird – damit die Angriffe auf Einrichtungen und Menschen, die dafür verantwortlich sind, Verwundete und Kranke zu behandeln, gestoppt werden.
Vorbereitung und Reaktion auf Notfälle
Als 2014 in Westafrika der Ebola-Ausbruch bekannt gemacht wurde, reagierten darauf nur eine Handvoll Regierungen und Organisationen, einschließlich Ärzte ohne Grenzen. Auf solche Notfälle vorbereitet zu sein, ist entscheidend, aber nicht ausreichend. Denn die Vorbereitung erfüllt keinen Zweck, wenn nicht reagiert wird, wenn Tausende sterben oder krank werden. Außerdem sollte die Vorbereitung auf Notfälle nicht auf Infektionskrankheiten beschränkt sein, die durch eine verzerrende Sicherheitslinse allein als Bedrohungen identifiziert werden.
Die G20 sollten sicherstellen, dass die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Verantwortung und nötige politische Unterstützung bekommt, um das Wohl von betroffenen Gemeinschaften statt gefühlte Sicherheitsbedrohungen mächtiger Staaten in den Mittelpunkt ihrer Reaktion auf Ausbrüche zu stellen. Darüber hinaus müssen die nötigen Ressourcen in enger Zusammenarbeit mit nationalen Behörden mobilisiert und eingesetzt werden. Länder brauchen einen Anreiz, um transparent und zeitnah Ausbrüche an die WHO zu melden, sodass eine koordinierte und effiziente Reaktion sichergestellt werden kann.
Bemühungen in Forschung und Entwicklung können nicht länger die Krankheiten ignorieren, die hauptsächlich die Länder und oft armen und benachteiligten Bevölkerungen treffen, mit denen wir arbeiten. Wir appellieren an Sie, die jüngsten Bemühungen bei der WHO und der Coalition for Epidemic Preparedness Innovations (CEPI) zu unterstützen, um diese Lücken zu schließen. Wir fordern Sie weiter auf, sicherzustellen, dass die Ergebnisse der Bemühungen in Forschung und Entwicklung für alle Länder und Menschen in Not verfügbar und erschwinglich sind.
Antimikrobielle Resistenzen und resistente Tuberkulose
Wir begrüßen die Vereinbarungen der UN High Level-Erklärung zu Antimikrobiellen Resistenzen (AMR), der im vergangenen September alle Regierungen zugestimmt haben. Ärzte ohne Grenzen ist besorgt, dass die G20-Staaten hart umkämpfte Verpflichtungen zurückziehen, die sicherstellen sollen, dass die Reaktion auf AMR wirklich global, patientenorientiert und an die Bedürfnisse aller Gesundheitssysteme angepasst ist, vor allem an ressourcenschwache Regionen. Die G20-Staaten müssen sicherstellen, dass öffentliche Investitionen in die Entwicklung von wirksamen Medikamenten, Impfstoffen und Diagnostika zu Produkten führen, die erschwinglich und zugänglich für alle Menschen sind, die sie benötigen. Das kann nur geschehen, wenn die Preise für Forschung und Entwicklung von Preis und Verkaufsvolumen des Endprodukts entkoppelt werden („de-linkage“). Das unterscheidet sich stark von der Entkopplung von Kapitalrendite und Verkaufsvolumen, das dagegen verteuerte Medikamente zur Folge hätte. Wir fordern die G20-Regierungen außerdem dazu auf, Maßnahmen zu vermeiden, die den Zugang zu Antibiotika für vernachlässigte Bevölkerungsgruppen verhindern oder einschränken. Es ist zentral, dass sich die G20-Staaten besonders auf resistente Formen der Tuberkulose konzentrieren, die 2015 für mehr als ein Drittel aller Tode durch antimikrobielle Resistenzen verantwortlich waren.
Um das zu tun, fordert Ärzte ohne Grenzen Unterstützung bei der Schließung von Zugangslücken bei Diagnose und Behandlung sowie die Umsetzung von „best pratices“ und von der WHO empfohlene Strategien. Ärzte ohne Grenzen fordert die G20-Regierungen auch auf, politische und finanzielle Unterstützung für die Entwicklung von bezahlbaren und kürzeren Behandlungstherapien für alle Formen der Tuberkulose bereitzustellen. Das schließt auch die 3P (Push, Pull, Pool) F&E Initiative ein.
Wir erwarten, dass die G20-Staaten den aktuellen Fokus auf Gesundheit unter der Präsidentschaft von Argentinien und darüber hinaus fortsetzen. Die gesundheitlichen Herausforderungen der Welt fordern Veränderungen, die Ihre Aufmerksamkeit, Ressourcen und Führung verlangen.
Mit freundlichen Grüßen
Joanne Liu
Internationale Präsidentin von Ärzte ohne Grenzen / Médecins Sans Frontières