Die Straße: Lebensader und Lebensgefahr
Das Leben der Stadt Abs spielt rund um die große Straße - nachdem sie die Berge im Süden verlassen hat, führt sie gerade und flach ins Land Richtung Norden bis zur Grenze mit Saudi Arabien. Sie ist die Hauptschlagader der kleinen Stadt in der Provinz Hadscha im Nordjemen. Die Straße bestimmt hier alles: Über sie kommen die Versorgungsgüter für die Menschen der umliegenden Bezirke an, auf der Straße finden Märkte und fliegender Handel an den Fenstern der ankommenden Busse und Autos statt. Und auf ihr treffen jeden Monat Dutzende, ja Hunderte Familien aus der ganzen Region auf der Suche nach medizinischer Versorgung ein, die immer schwieriger zu finden ist und von der oft das Leben eines ihrer Mitglieder abhängt.
"Wir mussten uns die 60.000 Rial (etwas mehr als 100 Euro) leihen, die das Taxi von unserem Bergdorf bis hierher kostete", erklärt die Mutter der 20-jährigen Tahani Ali. Tahani kam zur Geburt ihres ersten Kindes nach Abs, nachdem sie Anfälle aufgrund von Eklampsie erlitten hatte. Eklampsie ist eine gefährliche Schwangerschaftskomplikation, die durch Bluthochdruck verursacht wird. Sie ist leicht zu erkennen und zu verhindern, aber lebensbedrohlich für Mutter und Kind, wenn sie nicht frühzeitig diagnostiziert wird. Tahanis kleiner Junge gehört zu den mehr als tausend Kindern, die monatlich in diesem Krankenhaus geboren werden und das wir bereits fünf Jahre, seit Beginn der akuten Phase des Konflikts im Jemen, unterstützen.
Seit mehr als sechs Jahren herrscht im Jemen Bürgerkrieg – die Zerstörung ist immens und das Land weitgehend abgeriegelt. Nur humanitäre Helfer*innen dürfen unter strengen Auflagen einreisen. Die Lage ist so katastrophal, dass niemand sagen kann, wie viele Menschen ums Leben gekommen sind – Schätzungen gehen in die Zehntausende.
Die Zahl der Patient*innen, die wir in Abs behandeln, wächst stetig an. Das Krankenhaus ist in der stark vom Bürgerkrieg betroffenen Region zu einer Art Leuchtturm geworden, der sich bemüht, den großen Mangel an Gesundheitszentren in der Gegend auszugleichen. So ist es zurzeit die Anlaufstelle für etwa 1,5 Millionen Menschen.
Drei oder vier Stunden Pause
Maryam*, ist zur Entbindung ihres neunten Kindes zu uns gekommen. Sie lebt in einem nahe gelegenen Camp für vertriebene Menschen. Ihr genaues Alter kennt sie nicht, schätzt jedoch, dass sie "zwischen 40 und 60 Jahre alt" ist. Die winzige Fatima schläft friedlich, ungewahr der Welt, in die sie hineingeboren wurde. Ihre Mutter belegt eines der fünf Betten im Krankenhauszimmer und wartet wie die anderen Frauen, die gerade entbunden haben, darauf, ihre Rückkehr nach Hause antreten zu können.
Die Frauen bleiben in der Regel nicht länger als drei oder vier Stunden nach der Entbindung bei uns. Selbst wenn sie länger bleiben wollten, müssten sie nach Hause zurückkehren, um sich um ihre Familie zu kümmern. Sie können es sich nicht leisten, länger abwesend zu sein.
Eine Rückkehr scheint unmöglich
Maryam und ihre Mutter sind vor vier Jahren aus ihrem Dorf geflohen, nachdem sie gesehen hatten, wie ihre Nachbar*innen getötet wurden. "Wir mussten uns entscheiden, ob wir bleiben und die Nächsten sind oder ob wir nur in den Kleidern, die wir in dem Moment anhatten, fliehen sollten", sagt Maryams Mutter.
"Jetzt haben wir praktisch nichts mehr, es gibt Tage, an denen wir etwas Brot zu essen haben, an anderen haben wir nicht einmal das", fügt Maryam hinzu. Sie hat keine Hoffnung mehr, nach Hause zurückkehren zu können.
Gefährliches Chaos
Nur 25 Kilometer nördlich der besagten Straße befindet sich auch eine der Fronten in diesem Konflikt, der Millionen Menschen gezwungen hat, ihr Zuhause zu verlassen. In der Provinz Hadscha gibt es rund 150.000 vertriebene Menschen, hauptsächlich aus den grenznahen Gebieten, die den bewaffneten Zusammenstößen zwischen den Kämpfenden am stärksten ausgesetzt sind.
Die Straße zerteilt Abs in zwei Hälften, in beiden Teilen der Stadt geht das Leben so weiter, wie es lange vor Beginn dieses verheerenden Krieges war. Der Verkehr ist unaufhörlich, chaotisch und zweifellos gefährlich für Besucher*innen. Nicht nur für Außenstehende folgt er keiner ersichtlichen Logik oder Regel. Es gibt keine Fahrbahnmarkierungen und die Fahrzeuge fahren nicht immer in der Spur oder Richtung, die man erwarten würde. Ein großer Teil der im Krankenhaus behandelten Verletzungen wurden nicht durch den Krieg, sondern den lebensbedrohlichen Verkehr verursacht.
Alim*, ein kleiner Junge, wurde auf der Straße von einem Motorrad überfahren und mit einer schweren Verletzung am Unterbauch und inneren Blutergüssen bei uns eingeliefert. Unser Team erklärte dem Vater, der nicht von der Seite seines Sohnes weichen wollte, dass er in ein Krankenhaus in der Regionalhauptstadt Hadscha verlegt werden muss, wo wir ein weiteres medizinisches Zentrum unterstützen. Dort verfüge man über die Ausrüstung, um eine genauere Diagnose und die richtige Behandlung durchführen zu können.
Und so fahren sie mit einem Krankenwagen auf der Straße nach Süden zum Krankenhaus nach Hadscha - hoffentlich bringt sie derselbe Weg bald wieder zurück.
*Namen geändert