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Die Zahl der schweren Fälle ist erstaunlich hoch

Der Krieg im Jemen ist in seinem siebten Jahr – in den Medien wird er kaum noch erwähnt. In der nordwestlichen Provinz Hajjah ist zumindest die Zahl der Todesopfer in jüngster Zeit gesunken. Aber auch wenn das Sterben weniger wird, tragen viele der Lebenden schwer am Grauen ihrer Erfahrungen. 

Die Behörden ermittelten kürzlich, dass allein in der Provinz Hajjah mehr als 9.000 Personen psychosoziale Dienste benötigen. Das dürfte in dem vom Krieg gebeutelten Land aber lediglich die Spitze des Eisbergs sein. Antonella Pozzi ist Leiterin unseres Teams für psychische Gesundheit in dem von uns unterstützten Al-Gamhouri-Krankenhaus in Hajjah und berichtet im Interview:  

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Das Team für mentale Gesundheit in Hajjah, Jemen
Antonella Pozzi (erste von links) und ihr Team im Al-Gamhouri-Krankenhaus.
© Nasir Ghafoor/MSF

Antonella, welchen Symptomatiken und Krankheitsbildern begegnet ihr in eurer täglichen Arbeit? 

Die Bandbreite der von uns behandelten Erkrankungen ist sehr groß: Wir behandeln zum Beispiel Menschen, die unter Angstzuständen und Schlaflosigkeit leiden. Aber dann gibt es auch Patient*innen mit Psychosen, Depressionen, bipolaren Störungen und posttraumatischen Belastungsstörungen (PTSD). Und regelmäßig betreuen wir Patient*innen nach Selbstmordversuchen. 

Die Zahl der Menschen, die an psychischen Erkrankungen leiden, ist im Jemen besonders hoch. Kannst du das erklären? 

Je intensiver die Lebensumstände einer Person sind, desto stärker wird ihr Wohlbefinden beeinträchtigt. In einem Krieg zu leben bedeutet, über einen langen Zeitraum hinweg ständigem Stress ausgesetzt zu sein.  

Der bewaffnete Konflikt im Jemen hat sich nicht nur auf die körperliche Gesundheit der Menschen ausgewirkt: Er hat ihnen den Zugang zu medizinischer Versorgung, Bildung und Nahrung erschwert, ihre Bewegungsfreiheit eingeschränkt und ihnen die Möglichkeit genommen, sich frei zu äußern. Das alles hat Auswirkungen auf die Psyche und kann zu schweren psychischen Störungen führen. 

Ihr habt außerdem festgestellt, dass die Zahl der schweren Krankheitsverläufe extrem hoch ist, richtig?  

Ja, 45 Prozent der Patient*innen, die wir behandeln, haben schwere Krankheitsverläufe. Um das etwas in Kontext zu setzen: Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) sollte die Zahl der Patient*innen mit schweren psychischen Erkrankungen 5,1 Prozent der Gesamtfälle nicht überschreiten. Selbst wenn man bedenkt, dass wahrscheinlich die meisten schweren Fälle an uns weitergeleitet werden, da das Angebot an psychologischer Behandlung in der Region spärlich ist, sind 45 Prozent erschreckend. 

Wie kommen die Menschen für gewöhnlich zu euch? 

Wir haben eine offene Sprechstunde - und wie in allen Projekten von Ärzte ohne Grenzen behandeln wir unabhängig von Herkunft, Religion oder politischer Gesinnung, es zählt allein der medizinische Bedarf. 

Aufgrund des Krieges ist die Bevölkerung in Hajjah ein hohes Maß an Gewalt gewohnt. Die Menschen hier sind sehr widerstandsfähig und ihre Toleranz gegenüber widrigen Umständen ist enorm. Das bedeutet aber auch, dass sie erst dann in die Sprechstunde kommen, wenn ein psychisches Problem sehr offensichtlich geworden ist und die Patient*innen und Angehörigen nicht mehr damit umgehen können. So sucht eine Familie beispielsweise erst dann Hilfe, wenn ein*e Patient*in unruhig oder paranoid wird und droht, andere zu verletzen. 

Im Jemen suchen viele Menschen bei psychischen Symptomen zunächst eine spirituelle Behandlung. Dies kann zu unwirksamen Praktiken führen und oftmals eher schädlich als hilfreich sein. Wenn sie dann bei uns eintreffen, haben sich ihre Symptome manchmal verschlimmert. Dass eine spirituelle Behandlung als erste Option gesehen wird, deutet auf ein mangelndes Bewusstsein für psychische Gesundheit in der Bevölkerung hin - ein wichtiger Faktor in diesem Zusammenhang. 

Was kann getan werden, um die Situation in Hajjah zu verbessern? 

Mangelndes Bewusstsein und Stigmatisierung sind zwei Seiten der gleichen Medaille: Mangelndes Bewusstsein führt zu Stigmatisierung – die Betroffenen werden als verrückt oder gefährlich betrachtet. Sie werden diskriminiert und ausgegrenzt, was wiederum dazu führt, dass Betroffene ihre Krankheit verheimlichen. Dadurch wird ihr Leiden und ihre Isolation verstärkt. Gefühle nicht mitteilen und über psychischen Probleme nicht sprechen zu können, führt in vielen Fällen zu schweren Depressionen. 

Daher ist es sehr wichtig, über psychische Erkrankungen aufzuklären, damit die Symptome richtig erkannt werden und die Betroffenen und Angehörigen psychologische Hilfe suchen können - und auch erkrankte Menschen selbst keine Angst davor haben. Denn wenn psychische Erkrankungen übersehen werden, können sie chronisch werden. Das wiederum kann sich zu einer schweren Belastung des ohnehin schon geschwächten sozialen Gefüges im Jemen auswachsen. 

Wie geht es jetzt weiter? 

Selbst wenn der Konflikt im Jemen morgen beendet wäre, werden die Auswirkungen auf die psychische Gesundheit der Bevölkerung noch viele Jahre zu spüren sein. Der Jemen braucht ein langfristiges, umfassendes Konzept, um diese Gesundheitskrise anzugehen. 

In unserer täglichen Arbeit in Hajjah versuchen wir, den Umgang mit psychischen Problemen zu normalisieren und dazu beizutragen, das gesellschaftliche Verständnis zu stärken. Die Normen ändern sich natürlich nicht so schnell, aber wir hoffen, dass unsere Arbeit eine direkte Auswirkung darauf hat, wie psychische Krankheiten in der Gesellschaft wahrgenommen und angegangen werden.