„Die medizinische Versorgung ist am Ende“ - Bericht
Die Krankenschwester Crystal van Leeuwen ist gerade aus dem Jemen zurückgekehrt, wo sie als Mitglied unseres Notfallteams sieben Monate die medizinische Hilfe koordiniert hat. Sie erzählt von der gefährlichen Arbeit im jemenitischen Konflikt, von hoffnungsvollen Momenten und ihrer Bewunderung für die lokalen Mitarbeiter, die oft Frontlinien überqueren, um zur Arbeit ins Krankenhaus zu kommen. Deutlich wird auch, dass die Menschen mit dem unbequemen Wissen leben, dass sie einen Krieg durchleben, der wenig Unterschied zwischen zivilen und militärischen Zielen macht.
„Als ich nach meinem Flug von Dschibuti aus in der jemenitischen Hauptstadt Sanaa landete, lagen rechts und links neben der Landebahn zerstörte Flugzeuge in allen Größen. Der Krieg im Land war hautnah zu spüren.
Während der siebenstündigen Fahrt nach Tais fuhren wir an alten Steinhäusern an Berghängen und scheinbar normalem Landleben in kleinen Dörfern vorbei. Ich wünschte mir, dass ich als Touristin im Jemen wäre. Aber man kann den nun schon zwei Jahre andauernden Konflikt unmöglich ignorieren: Wir mussten mehr als 30 militärische Kontrollpunkte passieren, sahen zusammengebrochene Brücken, zerstörte Überführungen und überall Splitter von Granaten und Munition.
Große Teile von Tais sind stark vom Krieg beeinträchtigt, leere Straßen voller Barrikaden, zerstörte Gebäude, Bombenkrater und eine aktive Front mitten durch die Stadt. Zu der Zeit waren das Haus und das Büro von Ärzte ohne Grenzen noch sehr nahe an der Frontlinie. Man konnte Tag und Nacht die Schüsse und Luftangriffe hören – man lernt sehr schnell die Schussrichtung herauszuhören. Mittlerweile sind wir in das Krankenhausgebäude gezogen.
Neues Leben zwischen Konflikt und Angst
Ich konnte nicht anders, als an die Menschen zu denken, die schon viel länger als ich in dieser Situation leben und die versuchen, zwischen Konflikt und Angst ein normales Leben zu führen. Auf den Märkten werden Waren verkauft, und auf den Straßen sind Menschen, aber niemand weiß, wann und woher der nächste Luftangriff, die nächste Granate oder verirrte Kugel kommt. Es ist sehr traurig, sich die Angst vorzustellen, mit der die Menschen leben müssen. In einem Gebäude in Tais, das einmal ein Hotel und Einkaufszentrum werden sollte, betreiben wir ein Mutter-Kind-Krankenhaus mit einem Fokus auf Kindern unter fünf Jahren. Das Krankenhaus ist gut besucht, da viele Menschen diese kostenlosen Dienste nirgendwo sonst in Anspruch nehmen können.
Ich werde nie die ersten Zwillinge vergessen, die im Krankenhaus geboren wurden. Sie waren auch die ersten Neugeborenen in kritischem Zustand. Sie waren erst sieben Monate alt, Kinder einer jungen Frau, die zum ersten Mal Mutter wurde und klein genug, um sie mit einer Hand zu halten. Ihre Überlebenschancen waren sehr gering, weil sie so früh geboren wurden, aber das Team wollte ihre Leben retten. Wir benutzten ein Bett mit einer Wärmelampe, um ihre Temperaturen stabil zu halten. Es war sehr riskant, und wir mussten sie oft wiederbeleben. Aber sieben Wochen später entließen wir die sehr gesunden Zwillinge Ola und Osman. Die Eltern waren so dankbar, und es war eine Freude die Zufriedenheit auf ihren Gesichtern zu sehen, als sie das Krankenhaus verließen.
Arbeiten auf beiden Seiten der Front
Auf der anderen Seite der Front, die durch die Stadt verläuft, bieten wir ähnliche Dienste an, indem wir eine Einrichtung für Familienplanung und ein Kinderkrankenhaus des jemenitischen Gesundheitsministeriums unterstützen.
Auf beiden Seiten der Frontlinie unterstützen wir Notaufnahmen, in denen wir Patienten mit Verletzungen behandeln, die während des Konflikts entstanden sind. An einem Tag Mitte August, als die Friedensverhandlungen abbrachen und das Gewaltniveau wieder anstieg, haben wir in von uns unterstützten Einrichtungen in Tais 59 kriegsverletzte Zivilisten behandelt, 19 von ihnen waren Frauen und Kinder. Wir sehen Menschen mit Verletzungen von Splittern, Detonationen und Scharfschützenbeschuss. Zudem kümmern wir uns um Landminenopfer, und auch um viele Betroffene von Autounfällen. Patienten, die eine spezialisierte Behandlung benötigen, überweisen wir an andere Krankenhäuser. Aber für viele Menschen in Tais, die zwischen den Frontlinien gefangen sind, ist das keine Option. Sie müssen mit der eingeschränkten medizinischen Hilfe in ihrer näheren Umgebung auskommen.
Hilfe für die verletzlichsten Gruppen der Gesellschaft
Der Bedarf an humanitärer und medizinischer Hilfe der Menschen im Jemen ist gewaltig. Wir können dies ganz deutlich sehen: Menschen, die aufgrund der Gewalt aus ihren Häusern vertrieben wurden, benötigen Hilfsgüter, medizinische Ersthilfe und Versorgung bei chronischen Krankheiten. Lebensrettende reproduktive und pädiatrische Medizin sind genauso notwendig wie komplexe Operationen und anschließende Rehabilitation. Aber wir müssen akzeptieren, dass wir nicht alles machen können. Wir müssen sorgfältig entscheiden, was wir mit eingeschränkten Ressourcen machen, um den Bedürftigsten zu helfen. Diese Entscheidungen zu treffen, ist sehr schwierig, und für mich einer der Gründe, warum die Arbeit im Jemen eine besondere Herausforderung war.
In Sanaa betreiben wir ein Programm, das nicht zu unseren Standardprojekten gehört: Dialyse für Patienten mit Nierenversagen. Wir haben uns dazu entschlossen, weil niemand so schnell wie wir eingreifen konnte. Die Zeit ist entscheidend, weil die Patienten bei einer Unterbrechung der Behandlung sterben. Sie wurden häufig durch den Konflikt aus ihren Häusern vertrieben. Weil sie eine funktionierende Einrichtung suchen mussten, die sie aufnehmen kann, waren sie gezwungen, erneut aufzubrechen.
Viele Einrichtungen bei Luftangriffen beschädigt oder zerstört
Das Gesundheitssystem im Jemen ist sehr geschwächt: Sei es präventive Medizin, wie Impfprogramme für Kinder, die medizinische Erstversorgung, die weiterführende Behandlung oder spezialisierte Behandlung von Krebs und chronischen Krankheiten. Im ganzen Jemen wird Krankenhäusern und medizinischen Zentren nicht der Schutz gewährt, den sie laut des internationalen humanitären Rechts haben. Viele Einrichtungen wurden bei Luftangriffen oder Beschuss beschädigt oder zerstört. Auch Krankenhäuser von Ärzte ohne Grenzen sind davon betroffen. Bei dem tödlichsten Angriff im Jemen auf eines unserer Krankenhäuser kamen in Abs 19 Menschen ums Leben und 24 wurden verletzt. Nach dem Angriff trafen wir die schwierige Entscheidung, unsere Teams aus Abs und fünf weiteren von uns unterstützten Krankenhäusern in Saada und Hadscha wegen des hohen Risikos zu evakuieren. Einige engagierte Mitarbeiter des Gesundheitsministeriums sind in den Krankenhäusern geblieben und unterstützen unter unsicheren Bedingungen ihre Gemeinden. Im Jemen leben sowohl das medizinische Personal als auch die Patienten mit dem unbequemen Wissen, dass sie einen Krieg durchleben, der wenig Unterschied zwischen zivilen und militärischen Zielen macht.
In den öffentlichen Krankenhäusern, die noch funktionsfähig sind, sind die Betten voll belegt. Die Menschen, die es schaffen, kommen aus dem ganzen Land, um Zugang zu der medizinischen Versorgung zu bekommen, die es noch gibt. Für andere bleiben nur private Kliniken, die sich viele Patienten in der aktuellen wirtschaftlichen Krise aber nicht leisten können.
Scharfschützen auf dem Weg zur Arbeit
Es ist wundervoll, das Engagement der lokalen Mitarbeiter zu sehen. Der Krieg betrifft sie und ihre Familien und trotzdem kommen sie zur Arbeit – durchqueren die Fronten, um dorthin zu kommen, stehen Schlange an Kontrollpunkten, durchqueren Niemandsland oder trotzen den Schüssen von Scharfschützen. Ihre Familien sind oft schon in sicherere Gebiete geflohen, und trotzdem riskieren sie weiterhin ihr Leben, um ihrer Gemeinschaft zu helfen. Es ist mir eine Ehre, mit ihnen zu arbeiten.“
Vor der Evakuierung arbeitete Ärzte ohne Grenzen im Jemen in elf Krankenhäusern und Gesundheitszentren. 18 weitere Krankenhäuser in acht Provinzen (Aden, Al-Dhale, Tais, Saada, Amran, Hadscha, Ibb und Sanaa) wurden von der Hilfsorganisation unterstützt. Es arbeiteten mehr als 2.000 Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen im Jemen, 90 von ihnen sind internationale Mitarbeiter.