Die Bevölkerung bleibt in der Schusslinie - die erschütternde Geschichte der Familie Kaeed
Es ist unmöglich, einer Mutter Mut zuzusprechen, die ein Kind und neun weitere Mitglieder ihrer Familie verloren hat, weil Kriegsparteien im Jemen keine Rücksicht auf Zivilist*innen nehmen. Auch humanitäre Helfer*innen sind Opfer einer Kriegsführung, die gegen internationales humanitäres Völkerrecht verstößt. Unser Einsatzleiter Jaume Rado erzählt die Geschichte der Familie Kaeed und berichtet, was es für uns bedeutet, angegriffen zu werden und unter solchen Umständen weiter Hilfe zu leisten.
Am 11. August dieses Jahres kam Familie Kaeed in einem Gebäude in Mustaba im nordwestlichen Jemen zusammen, um das Opferfest zu feiern. Die Familie war bereits aus ihrer Heimatstadt geflohen, um Zuflucht in Mustaba zu suchen. Sie waren gerade beim Mittagessen, als ein Luftangriff direkt das Gebäude traf. Mindestens zehn Familienmitglieder wurden bei dem Angriff getötet. Die 17 Verletzten wurden in dem von uns unterstützten Krankenhaus in Abs (Gouvernement Hadscha) behandelt. So viele Verwundete wurden 2019 noch nie an einem Tag eingeliefert.
Die 25-jährige Mariam verlor eines ihrer Kinder bei dem Angriff. Als ich mit ihr sprach, musste ich an die mehreren Tausend Patient*innen und ihre Familien denken, die von diesem Konflikt betroffen sind. Jeder Tag, an dem wir Patient*innen behandeln, ist ein Tag, an dem die Auswirkungen des Krieges auf die Bevölkerung sichtbar sind.
„Der fünfte und tödlichste Angriff auf eine Einrichtung von Ärzte ohne Grenzen“
Im Gespräch mit Mariam musste ich unmittelbar an August 2016 denken, als unsere Kolleg*innen und Patient*innen bei einem Luftangriff getötet worden waren. Dieser Angriff der von Saudi-Arabien geführten Militärallianz traf die Notaufnahme des Krankenhauses in Abs und tötete 19 Menschen, darunter einen unserer Mitarbeiter und fünf Kinder. Es war der fünfte und tödlichste Angriff gegen eine von Ärzte ohne Grenzen unterstützte medizinische Einrichtung im Jemen seit 2015.
Seitdem dauern die Luftangriffe unvermindert an. Am 11. Juni 2018 wurde auch ein neu von uns erbautes Cholera-Behandlungszentrum in Abs angegriffen. Das Gebäude musste vollständig wiederaufgebaut werden. Mehr als 1,2 Millionen Menschen, die nach einem Cholera-Ausbruch medizinische Hilfe benötigten, konnten nicht behandelt werden. Die Ausbreitung von Krankheiten wie Cholera und Diphtherie zeigt, wie stark der Konflikt die Gesundheit und das Wohlbefinden der jemenitischen Bevölkerung beeinträchtigt.
„3,65 Millionen Menschen wurden aus ihren Häusern vertrieben“
Die Konfliktparteien im Jemen missachten rücksichtslos den Grundsatz, die Bevölkerung unversehrt zu lassen: Das humanitäre Völkerrecht wird offen verletzt, Verwundete werden als "Kollateralschäden" bezeichnet und Angriffe werden fahrlässig in unmittelbarer Nähe der Zivilbevölkerung vollzogen. 3,65 Millionen Menschen wurden aus ihren Häusern vertrieben, Tendenz steigend. Die humanitäre Reaktion auf den Konflikt ist unzureichend. Diejenigen, die medizinische Hilfe bereitstellen, werden nicht ausreichend geschützt. Es ist unmöglich, einer Mutter Mut zuzusprechen, die ein Kind und neun weitere Mitglieder ihrer Familie verloren hat. So war es auch vor drei Jahren unmöglich, unser Personal und die Patient*innen zu trösten. Es gibt keine Antworten darauf.
Die Forderungen nach höherer finanzieller Unterstützung der humanitären Hilfe werden größer. Und mehr Mittel sind erforderlich. Aber das reicht nicht aus. Humanitäre Organisationen müssen gefahrlos diejenigen erreichen können, die die humanitäre Hilfe am dringendsten brauchen. Stattdessen arbeiten sie in immer kleiner werdenden Gebieten, die immer weiter von den Vertriebenen entfernt sind.
„Achten Sie das humanitäre Völkerrecht und schützen Sie die Zivilbevölkerung“
Drei Jahre nach der Bombardierung des Krankenhauses in Abs gibt es immer noch nur eine einfache Forderung an alle Konfliktparteien: Achten Sie das humanitäre Völkerrecht und schützen Sie die Zivilbevölkerung. An diejenigen, die die Kämpfer*innen zur Verantwortung ziehen können: Akzeptieren Sie keine sogenannten "Fehler" oder "Kollateralschäden". An die internationale humanitäre Gemeinschaft: Es ist an der Zeit, mehr zu tun und zu sagen.