"Man muss sich immer normal verhalten, aber eigentlich hat man die ganze Zeit große Angst“ - Augenzeugenbericht aus Tais
Christopher McAleer ist gerade aus Tais zurückgekehrt, wo er unsere Teams als Logistiker unterstützte. Sein Bericht über die Situation dort steht beispielhaft für den seit knapp zwei Jahren andauernden Konflikt und die schlimme Situation in ganz Jemen. Tais ist die drittgrößte Stadt des Landes, direkt an der Kriegsfront.
“Tais wurde durch einige der schwersten Kämpfe der letzten Zeit erschüttert. Sowohl innerhalb als auch außerhalb der Stadt finden andauernd Luftangriffe und wahllose Bombardierungen statt. Die Bomben treffen oftmals Wohngegenden und Häuser von Zivilisten sowie Krankenhäuser. Es gibt zahlreiche Scharfschützen und Landminen. Es besteht nicht nur eine Art von Risiko – es gibt so viele verschiedene Risiken gleichzeitig.
Ich arbeitete im Mutter-Kind-Krankenhaus von Ärzte ohne Grenzen in Al Houban. Als Logistiker musste ich sicherstellen, dass alles reibungslos funktionierte und dass die Ärzte so gut wie möglich arbeiten konnten. Während ich da war, gab es zahlreiche Vorfälle, bei denen es eine große Zahl von Verletzten und Toten gab. Ich musste eine provisorische Leichenhalle einrichten und Menschen in Leichensäcke packen.
„An diesem Abend gab es 30 Opfer, sowohl Verwundete als auch Tote“
Eines der schlimmsten Erlebnisse ereignete sich am 17. November. Die Frontlinie verlagerte sich um zwei Kilometer, was zu ausgiebigen Kämpfen in der Stadt führte. Es war halb acht Uhr abends und wir waren gerade in unserem Wohnbereich oberhalb der Krankenstation, als wir hörten, dass es auf einem belebten Markt in unserer Nähe eine Explosion gegeben hatte. Wir versuchten sofort herauszufinden, ob die Bombardierung anhielt. Als wir sicher waren, dass sie aufgehört hatte, schickten wir Krankenwagen zum Markt und informierten das chirurgische Traumazentrum und das Mutter-Kind-Krankenhaus, um schwere Fälle aufzunehmen.
Dann gingen wir hinunter ins Krankenhaus, um uns so gut wie möglich vorzubereiten. An diesem Abend gab es 30 Opfer, sowohl Verwundete als auch Tote. Sie kamen in Krankenwagen an, auf den Ladeflächen von Kleinlastern, in Minibussen und kleinen Autos. Wir teilten die ankommenden Patienten je nach Schweregrad der Verletzungen in drei Kategorien ein: Rot für diejenigen, die dringend operiert werden mussten; Gelb für jene, deren Behandlung bis zu zwölf Stunden warten konnte; und Grün für all jene, die laufen konnten, was vermuten ließ, dass sie nur leicht verletzt waren.
„Ganz gleich, was passiert, wir sind hier und verlassen euch nicht“
Dann erfuhren wir, dass einer unserer Mitarbeiter, ein Wachmann, ums Leben gekommen war. Als er ins chirurgische Traumazentrum gebracht wurde, war er bereits tot. Das hat uns sehr mitgenommen. Es war extrem schwierig für die Mitarbeiter mitzuerleben, wie einer ihrer Kollegen tot eingeliefert wurde. Durch die schnelle Verschiebung der Frontlinie konnten manche Kollegen nicht mehr nach Hause gelangen. Sie mussten im Krankenhaus schlafen, weil sie nirgendwo anders hinkonnten.
Auf dem Höhepunkt der Kämpfe wurden aus der Nähe des Krankenhauses Tag und Nacht Granatfeuer abgegeben. Gleichzeitig gab es Luftangriffe auf diese Stellungen. Für das Krankenhauspersonal ist das sehr beängstigend. Man weiß einfach nicht, was passieren wird. Man muss sich immer normal verhalten, aber eigentlich hat man die ganze Zeit große Angst. Es kann ständig vorkommen, dass Bewaffnete ins Krankenhaus eindringen oder dass man von einer Bombe oder einem Luftangriff getroffen wird. Man teilt dieses Risiko mit den jemenitischen Kollegen und der Bevölkerung. Für mich war es eines der stärksten Dinge überhaupt, sagen zu können: ‚Ganz gleich, was passiert, wir sind gemeinsam hier und verlassen euch nicht‘.
„Ärzte ohne Grenzen arbeitet in Tais auf beiden Seiten der Frontlinie“
Weil das Gesundheitssystem in Tais langsam zusammenbricht, haben viele Menschen keinen Zugang mehr zu medizinischer Versorgung. Ärzte ohne Grenzen arbeitet in Tais auf beiden Seiten der Frontlinie. Wie unterstützen vier Krankenhäuser in einer Enklave, die von den Houthi-Rebellen belagert wird. In der Gegend Al Houban, die von Houthi-Rebellen kontrolliert wird, leiten wir ein Mutter-Kind-Krankenhaus und ein chirurgisches Traumazentrum. Besonders die alltäglichen medizinischen Bedürfnisse der Menschen werden inmitten eines Konfliktes oft übersehen. Wir kümmern uns vor allem um Frauen und Kinder. Aber wir helfen auch allen, die durch den Krieg verletzt werden. Unser Team im Mutter-Kind-Krankenhaus assistiert jeden Monat bei 400 Geburten und behandelt Kinder mit Mangelernährung.
Die Menschen in Tais benötigen dringend Nahrung, medizinische Versorgung, Wasser, Sanitäranlagen und eine sichere Unterkunft. In dieser schlimmen Situation war ich beeindruckt von meinen jemenitischen Kollegen. Jeden Tag kamen sie zur Arbeit, trotz der Scharfschützen und den Bombardierungen. Sie setzen sich dafür ein, das Leben der Menschen in Tais zu retten. Trotz der schrecklichen Lage haben die Menschen den Wunsch, anderen zu helfen, nicht aufgegeben – diese Tatkraft ist im Jemen noch nicht gestorben.“
Ärzte ohne Grenzen arbeitet seit 1986 im Jemen, wo Armut und Unsicherheit den Zugang zu medizinischer Hilfe erschweren. Seit dem Beginn des Krieges im März 2015 wurden viele Gesundheitseinrichtungen im Jemen beschädigt oder zerstört. Vielerorts ist das medizinische Personal geflohen. Zudem sind die Transportmöglichkeiten aufgrund der hohen Treibstoffpreise und der Unsicherheit auf den Straßen sehr begrenzt. Wir haben den lokalen Krankenhäusern mit Hilfe des Gesundheitsministeriums dringend notwendige Unterstützung zukommen lassen und sind zurzeit mit 2.020 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Einsatz.