„Die Gewalt hat nicht nachgelassen, sie passiert nur unter neuen Vorzeichen“
Unser extrem mobiles Notfallteam ist in Kolumbien unterwegs, wenn Menschen – meist aufgrund von Gewaltausbrüchen - vertrieben werden, aber auch bei Naturkatastrophen oder Epidemien. Die Koordinatorin Sulaith Auzaque erzählt von den Einsätzen dieses aus drei Mitarbeitern bestehenden Teams und analysiert die gegenwärtige Situation im Land, die trotz Friedensvertrag von Gewalt gezeichnet bleibt. Sie berichtet von einer tief gespaltenen Gesellschaft im Jahr kolumbianischer Wahlen.
Wie sehen Einsätze des Teams aus?
Unsere Einsätze hatten in den vergangenen Jahren meistens mit Gewalt oder Vertreibung und Gefangenschaft infolge von Gewalt zu tun. Wir halten ständig die Augen auf und sobald ein Notruf eingeht, prüfen wir die Situation vor Ort. Bei Bedarf reagieren wir sofort. Wenn es nötig ist, bieten wir auch über längere Zeit unsere Unterstützung an.
Ein typischer Einsatz war im März 2017 in Chocó, wo etwa 600 Menschen vertrieben wurden. Die Friedensvereinbarung zwischen der FARC und der Regierung hat die Gewalt dort nicht beendet. Aufgrund der Nähe zu Panama und der Flüsse und Wälder ist die Gegend ideal für illegale Aktivitäten wie Coca-Anbau und Kokain-Produktion. Die Konfliktgruppen erheben territoriale Ansprüche. Durch den Abzug der FARC ist ein Vakuum entstanden, das jetzt andere ausfüllen, mithilfe von Gewalt. Für uns bedeutete das, den Vertriebenen zu folgen, um ihnen weiterhin medizinische und psychologische Hilfe zu bieten. Es gibt keine offiziellen Unterkünfte und nicht genügend Latrinen.
Ist die Gewalt zurückgegangen?
Die Gewalt hat nicht nachgelassen, sie passiert jetzt einfach unter neuen Vorzeichen, das heißt die bewaffneten Gruppierungen haben andere Namen. An die Stellen derer, die sich von der Gewalt losgesagt haben, sind neue getreten. Dort, wo die Bevölkerung sich dem Regime einer Gruppe hatte beugen müssen, gibt es jetzt andere Machthaber. Diese wollen erst noch ihre Stärke beweisen und benutzen Gewalt und Brutalität, um sich den Gehorsam der Menschen zu sichern.
Was erwartet das Team für 2018?
Die Wahlen dieses Jahr könnten noch mehr Gewalt hervorrufen. Verschiedene Gruppen könnten verschiedene Kandidaten unterstützen. In der Gesellschaft gehen die Meinungen stark auseinander, ob man den Friedensprozess unterstützen sollte oder nicht. Das könnte in manchen Gemeinden schwere Folgen haben. In solchen Fällen muss der Staat mehr für die medizinische und psychologische Erstversorgung in Gegenden tun, die abgelegen sind oder durch die Präsenz von bewaffneten Gruppen schwer zugänglich sind.
Wir wollen daher unser Notfallteam um einen Mitarbeiter – eine Pflegekraft - vergrößern. Es gibt Orte, an denen wir waren, wo es seit drei Jahren keine medizinische Versorgung gegeben hat!
Wie kam es dazu, dass Gegenden ohne medizinische Versorgung sind?
Es ist eine Kombination von mehreren Faktoren, zum Beispiel wurden medizinische Einsätze angegriffen oder stigmatisiert. Von manchen Gegenden haben sich die Behörden unter Verweis auf die dort herrschende Gewalt abgewendet. Die Hilfe kommt nicht dort an, wo sie gebraucht wird. Um medizinische Hilfe zu bekommen, müssen die Patienten selbst zu den Einrichtungen gelangen. Dazu kommt, dass bewaffnete Gruppen nach der Übernahme eines Gebietes den Zutritt einschränken. Das gilt vor allem für Gegenden, in denen Coca angebaut, Kokain produziert oder Bergbau betrieben wird. Den Zugang müssen wir mit den Anführern der Gemeinden aushandeln, die die Erlaubnis der Gruppen einholen.
Welcher Einsatz hat Sie 2017 am meisten beschäftigt?
Den stärksten Eindruck hinterlies unser Einsatz nach dem Erdrutsch in Mocoa, der Hauptstadt von Putumayo. Ursache für den Erdrutsch waren die gebrochenen Dämme von drei Flüssen. Dabei kamen mehr als 300 Menschen ums Leben und Hunderte wurden laut offiziellen Angaben vermisst. Wir haben Medikamente und Materialien für Notfälle gespendet und Menschen direkt in den Notunterkünften behandelt. Es gab großen Bedarf für psychologische Betreuung, weil viele Menschen Familienmitglieder verloren hatten und viele nicht wussten, was mit ihren Angehörigen geschehen war. Leben sie noch? Was muss man tun, wenn jemand gestorben ist? Soll man ins Leichenschauhaus gehen und dort Bilder von Gestorbenen durchgehen? Viele Kinder wurden vermisst und die Trauer und Verzweiflung der Menschen war sehr groß. In dieser Situation boten wir psychosoziale Unterstützung an und versuchten die Anspannung so weit wie möglich zu lindern.
Wie lange waren Sie da?
Der Einsatz dauerte einen Monat. Weil noch andere lokale Hilfsorganisationen dort waren und wir auch anderswo hätten gebraucht werden können, haben wir unseren Einsatz beendet, sobald wir die örtlichen Hilfskräfte geschult hatten. Sie konnten die Arbeit ohne uns fortsetzen.
2017 unterstützte das Notfallteam von Ärzte ohne Grenzen 1.921 Menschen psychologisch und leistete medizinische Ersthilfe für 432 Betroffene. Die meisten Einsätze waren in den Departments Chocó, Putumayo, Antioquia, Guaviare und Caquetá.