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In "La 72" in Mexiko finden Vertriebene Zuflucht

Mexiko ist nicht mehr nur ein Transitland. Viele kommen nicht mehr, weil sie auf dem Weg in die Vereinigten Staaten sind, sondern weil sie aus einer Heimat fliehen müssen, die sie nicht mehr Heimat nennen können. Tausende von Menschen aus Zentralamerika kommen und bleiben. Am Stadtrand von Tenosique, einer Stadt nahe der Grenze zu Guatemala, befindet sich La 72, ein Zufluchtsort für Schutzsuchende. Er wird vom Franziskanerorden betrieben, ein Team von Ärzte ohne Grenzen unterstützt die Einrichtung. La 72 ist eine kleine Oase, in der die Menschen sich erholen, Informationen finden und auf einen Computer oder ein Telefon zugreifen können, um die Familie zu kontaktieren.

Montagmorgen. Es ist die immer gleiche Routine in La 72: Alle sind wach zum allgemeinen Putzen um 6:30 Uhr. Dann bis acht Uhr Zeit für die die persönliche Hygiene. Und zwischen 8.00 Uhr und 8.30 Uhr anstehen für das Frühstück. Dann warten, bis sich das Eingangstor öffnet.

Auf einer der runden Terrassenbänke sitzt Abraham, ein 40-jähriger Salvadorianer, der vor kurzem aus den USA deportiert wurde – aus dem Land, in dem er seit er 18 war, lebte. Er erklärt, weshalb die Abschiebung aus den USA eine Sackgasse für die Menschen aus El Salvador darstellt. Abraham wurde verhaftet, als die Polizei nach einem Verwandten suchte, der in ein schweres Verkehrsdelikt verwickelt war. Die Polizei kam zu seinem Haus und fragte nach seinen Papieren. Kurz darauf folgte eine Abschiebeanordnung und Abraham fand sich im Dezember 2017 in einem Flugzeug mit weiteren 150 Salvadorianern wieder, auf den Weg in ein Land, das nicht mehr sein eigenes ist.

Wieder zurück, warten die clicas (Gangs)

„Nur wenige Tage nach meiner Ankunft riefen sie mich an, sie sagten mir meinen Namen, sie wussten, wo meine Familie in den Vereinigten Staaten lebte, wie lange ich dort war und sie gaben mir 24 Stunden, um 2.500 Dollar zu sammeln. Wenn nicht, dann...“ Abraham gab ihnen nicht einmal vier Stunden. Sobald er die Nachricht erhalten hatte, machte er sich auf dem Weg. Sein Ziel sei es nicht mehr, die Vereinigten Staaten zu erreichen, erzählt er. Im Süden die Gangs, im Norden die ständige Gefahr, wieder ausgewiesen zu werden. Resigniert bleibt er in Mexiko.

„Mexiko ist kein Transitland mehr“, erklärt Karen Martínez, eine unserer Sozialarbeiterinnen in La 72. „Viele von ihnen gehen, weil ihr Leben in Gefahr ist. Nachdem sie ihr Haus oder ihre Farm verkauft oder eingetauscht haben, ist hierbleiben alles, was sie wollen, nachdem sie die Gefahr hinter sich gelassen haben.“

Sie fliehen vor Gewalt in ihren Herkunftsländern, aber die Gewalt folgt ihnen

Alex geht auf Krücken. Er ist 29 Jahre alt und stammt aus Honduras. Er ist nervös heute, weil er auf seine Frau wartet, die die Grenze von Guatemala nach Mexiko überqueren wird. Alex hat einige Erfahrung mit dieser Strecke – es ist seine vierte Reise Richtung Norden, wieder erfolglos. 2014, erzählt er, waren es die gefürchteten Los Zetas, die seine Reise unterbrochen hätten.

Los Zetas ist eines der Kartelle, die 2010 für das Massaker an 72 Vertriebenen in San Fernando, Tamaulipas, verantwortlich waren. Grund dafür waren Rivalitäten zwischen Kartellen um die Kontrolle der Fluchtrouten. Daher stammt der Name La 72 für den vom Franziskanerorden verwalteten Zufluchtsort. Die Unterkunft dient der Anerkennung und der Verurteilung der Gewalt, der Flüchtende auf der Strecke ausgesetzt sind. Sie fliehen vor der Gewalt ihrer Herkunftsländer, aber die Gewalt folgt ihnen.

Es ist neun Uhr morgens, das Tor von La 72 wird geöffnet. Alex hofft, dass seine Frau die Grenze überqueren kann. Man hört so viele Dinge. „Es ist ein gefährlicher Abschnitt. Sie sagen, dass sie Frauen vergewaltigen“, erzählt Alex. „Sie ist 25 Jahre alt und meine Töchter sind acht und sechs Jahre alt.“

Guadalupe, eine Mutter von fünf Kindern aus Honduras, die in La 72 Schutz suchte, überlebte die Gefahren an der Grenze zwischen Guatemala und Mexiko in Tenosique. Sie erklärt, dass sie gezwungen war, ihr Land zu verlassen, als die Gangs ihren ältesten Sohn (14) ins Visier nahmen: „Die Gang 18 wollte, dass er Wache für sie steht. Deshalb bin ich mit den Kindern gegangen.“ Zu Fuß überquerten sie in der Abenddämmerung die Grenze von Guatemala nach Mexiko. „Die drei Älteren gingen voran, die zwei Kleinen im Alter von acht und fünf Jahren waren bei mir. Plötzlich erschienen drei Männer. Einer fing an, das Mädchen anzufassen. Ich ging auf die Knie und flehte sie an, ihr nichts zu tun. Sie packten mich an den Haaren und zerrten mich von der Straße.“

Guadalupe plant, seit sie in La 72 ist, nicht mehr, weiter nach Norden zu gehen. Sie will in Tenosique bleiben und anderen Vertriebenen, anderen Frauen helfen.

Immer mehr Familien

Dienstag, Mittagszeit. Mehrere Gruppen von jungen Leuten, Neuankömmlinge, deren Hoffnung immer noch auf der Straße ruht, sind nicht nach Tenosique in die Stadt gegangen. Sie müssen ihr Geld sparen. „In den vergangenen Monaten haben wir eine Zunahme von Familien, von Frauen und Kindern auf der Flucht festgestellt“, berichtet Ramón Márquez, Direktor von La 72. „Der Mangel an Schutz und die Verletzlichkeit der Schutzsuchenden ist in dieser Gruppe gestiegen und die Gewalt, die früher jungen Männern galt, betrifft jetzt auch sie.“

Candy Hernandez, eine unserer Ärztinnen, erklärt, welche Arten der medizinischen Versorgung unser Team anbietet. „Wir sehen, was bei Menschen auf der Flucht zu erwarten ist: Wunden, Dehydrierung, Fieber. Aber wir sehen auch die schrecklichen Folgen der Gewalt durch die Gangs, die sie auf dem Weg angreifen, um sie auszurauben: Macheten, Schläge, Missbrauch und sexuelle Gewalt. Grausame und unmenschliche Geschichten.“

Verschärfte Migrationspolitik mit dramatischen Folgen

Mittwochnachmittag. Die Leute widmen sich den alltäglichen Aufgaben. Die Kleidung wird im Schichtbetrieb gewaschen. Die Leute warten darauf, aufgerufen zu werden, um zum Telefon zu rennen und eine vertraute Stimme zu hören.

Obwohl in Tenosique auf den ersten Blick nicht zu erkennen ist, dass die Schutzsuchenden abgelehnt würden, warnt Márquez vor „dem zunehmend normalisierten Diskurs, der Vertriebene und Geflüchtete kriminalisiert. Das ist in einem Land wie Mexiko sehr gefährlich. Das Land ist nicht vorbereitet, hat keine Ressourcen, kein geschultes Personal und keine Strategie, um dem Phänomen von Menschen zu begegnen, die vor Gewalt fliehen, aber weiterhin Gewalt auf der Straße und in Mexiko selbst ausgesetzt sind.“

Ärzte ohne Grenzen warnt vor den Folgen einer härteren Migrationspolitik für die von Gewalt betroffenen Menschen in Zentralamerika. Die Verschärfung der Politik zeigt sich unter anderem in einer möglichen Vereinbarung zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko, Asylanträge nur in Mexiko zu bearbeiten, anstatt bei der Ankunft in den USA. So soll verhindert werden, dass Menschen aus Zentralamerika in den USA Schutz beantragen, obwohl sie nach internationalem Recht Anspruch darauf haben.

„Im Jahr 2017 haben mehr als 100.000 Menschen aus Honduras, Guatemala und El Salvador Asylanträge in den USA gestellt. Mexiko ist kein sicheres Land für sie, und es ist nicht dafür ausgerüstet, einer fliehenden Bevölkerung medizinische Versorgung und Schutz zu bieten. Menschen zu zwingen, dort zu bleiben, verdammt sie zu noch mehr Gewalt“, erläutert Bertrand Rossier, einer unserer Projektkoordinatoren in Mexiko.

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