Ein Friedhof aus Wasser – Bericht von einem unserer Seenot-Rettungseinsätze
246 Menschen konnten am 25. Oktober von dem Team von Ärzte ohne Grenzen an Bord des Rettungsschiffes Bourbon Argos aus zwei Schlauchbooten gerettet werden. 29 Menschen konnten nur noch tot geborgen werden. Unsere medizinische Koordinatorin Dr. Federica Zamatto berichtet von diesem dramatischen Einsatz und den Gedanken, die sie bei dieser Arbeit beschäftigen.
„Leichensäcke reihen sich an Bord der Bourbon Argos traurig aneinander. Unser Team hat 29 Tote geborgen. Sie sind inmitten eines Gemischs aus Salzwasser und Benzin gestorben, vermutlich erstickt an den Treibstoffdämpfen. Unsere Mitarbeiter fanden die Leichen, nachdem sie 107 Menschen aus einem überfüllten Schlauchboot gerettet hatten. Sie lagen am Boden, bedeckt von der tödlichen Flüssigkeit. Aufgrund der schwierigen und riskanten Bedingungen dauerte es drei Stunden, um alle Leichen zu bergen.
Aus demselben Boot wurden 23 Menschen mit schweren Verätzungen gerettet. Wenn man einmal Menschen mit Verätzungen durch Benzin und Salzwasser gesehen hat, vergisst man das nie wieder. Wenn Flüchtlinge auf überfüllten Booten reisen, dringt dieses furchtbare Flüssigkeitsgemisch bei denjenigen, die in der Mitte der Boote sitzen, langsam in die Füße, die Beine und den Genitalbereich ein, und die Haut wird verätzt. Zwei Menschen hatten so schwere Verätzungen, dass sie per Hubschrauber nach Italien evakuiert werden mussten, weitere fünf per Schnellboot, einschließlich einem, den unser Arzt an Bord der Bourbon Argos intubieren musste.“
„Die vergangenen Tage auf See waren furchtbar“
„Die vergangenen Tage auf See waren furchtbar. Rettungsteams waren ständig unterwegs, um Boote aus Seenot zu retten. Ärzte ohne Grenzen ist nun seit vielen Monaten gemeinsam mit anderen Nichtregierungsorganisationen auf hoher See und hat tausende Menschen vor dem Ertrinken gerettet. Trotz all dieser Einsätze sind mehr als 3.900 Menschen in diesem Jahr auf hoher See verstorben.
Mich verfolgen diese Bilder der toten Menschen auf hoher See. Leichen mit schweren, von Salzwasser durchtränkten Kleidern, Wasser in ihren Mündern. Wasser, das ihre Körper anschwellen ließ und das aus ihrem Gesicht den schmerzverzerrten Ausdruck verdrängte. Niemand war in den letzten Sekunden ihres Lebens da, um ihre Hand zu halten. Niemand konnte ihre Gesichter streicheln, nachdem sie gestorben waren. Keine Angehörigen, die sie für die Beerdigung zurechtmachen und begraben werden. Das Meer ist zu einem Friedhof aus Wasser geworden, aber nur wenige scheint das zu kümmern.“
„Es herrscht einfach nur Stille. Und diese Stille verfolgt mich“
Auch nach Jahren fehlt die angemessene Beschreibung des komplexen Phänomens der „Bootsflüchtlinge“. Nach wie vor gelingt es uns nicht wirklich, das tägliche Leid auf dem Mittelmeer sichtbar zu machen. Stattdessen hören wir populistische Reden, alte Ängst vor dem Anderen, Furcht vor einer Invasion auf der einen und Aufrufe zur Schaffung von sicheren und legalen Wegen auf der anderen Seite – ein Teufelskreis. All das führt zu nichts. Es scheint so, als ob das einzige, das unseren Politikern einfällt, der Bau von Zäunen, strengere Grenzkontrollen, Abschiebungen und Abkommen mit Drittländern sind, um die Schutzsuchenden von uns fernzuhalten.
In der Zwischenzeit wiederholen sich die Tragödien seit Jahren fast täglich, ohne Unterbrechung. Ich habe vor zehn Jahren für Ärzte ohne Grenzen in Lampedusa zu arbeiten begonnen. Wir waren damals zu dritt: ein Koordinator, eine Krankenschwester und ich. Tag und Nacht waren wir in Bereitschaft, um ankommende Bootsflüchtlinge zu betreuen. Wir haben Stunden, auch oft nachts, damit verbracht, den Horizont nach Schutzsuchenden abzusuchen. Seit diesen Monaten in Lampedusa habe ich immer wieder die Augen dieser Menschen vor mir, verlorene und verzweifelte Augen, die sich aufhellten, wenn die Menschen einen Fuß auf das Festland setzten, ihnen jemand half und sie willkommen hieß. Ich erinnere mich an die schwangeren Frauen, die unter Unterkühlung und Verbrennungen litten, ihre Schwangerschaften oft Folge von Vergewaltigungen. Ich erinnere mich an die Menschlichkeit in den Gesten der Helfer und an die Verwirrung der Flüchtlinge, wie sie zitternd nebeneinander am Steg saßen und auf den Weitertransport zum Aufnahmelager warteten.
Ich denke an den Friedhof von Lampedusa, wo namenlose Leichen liegen, Menschen, die ihr Leben in einem der unsicheren Boote riskiert und dabei alles verloren haben. Auch auf diese im Mittelmeer Verstorbenen wartet, wie bei den namenlosen Opfern jedes Krieges, irgendwo in der Welt jemand, der auf ein Lebenszeichen, einen Anruf hofft. Aber es herrscht einfach nur Stille. Und diese Stille verfolgt mich.“