Ärzte ohne Grenzen: EU muss endlich Todesfälle im Mittelmeer verhindern statt NGOs zu behindern
Vor dem Treffen der EU-Innenminister im estnischen Tallinn am Mittwoch und Donnerstag haben Bundesinnenminister Thomas de Maizière, seine Amtskollegen aus Italien und Frankreich sowie EU-Migrationskommissar Dimitris Avramopoulos in Paris eine Erklärung verabschiedet, in der sie unter anderem zusätzliche Unterstützung für die libysche Küstenwache fordern und einen Verhaltenskodex für NGOs, die in der Seenotrettung im Mittelmeer aktiv sind.
Dazu erklärt Florian Westphal, Geschäftsführer von Ärzte ohne Grenzen in Deutschland:
„Innenminister de Maizière und seine Amtskollegen ignorieren komplett das humanitäre Desaster, das sich derzeit in Libyen und im Mittelmeer abspielt. Die Menschen, die wir im Mittelmeer aus Seenot retten, berichten von willkürlichen Inhaftierungen, Vergewaltigungen und absolut rechtlosen Zuständen. Selbst in den offiziellen Internierungslagern in Libyen, in denen unsere Teams medizinische Hilfe leisten, herrschen untragbare Zustände. Die Menschen, die aus Libyen fliehen, brauchen dringend Schutz und sichere Fluchtwege. Es ist leider völlig unrealistisch, dass sich die Situation in Libyen kurzfristig verbessern lässt.
Es ist falsch, dass die Innenminister die libysche Küstenwache weiter aufrüsten wollen, obwohl abgefangene Flüchtlinge nach wie vor in unwürdige Internierungslager gesperrt werden, in denen es selbst an einer Mindestversorgung fehlt. In manchen dieser überfüllten Gefängnisse haben unsere Teams beobachtet, dass die Menschen tagelang nichts zu essen bekommen haben. Sie haben Erwachsene mit Mangelernährung behandeln müssen, was ein absolutes Alarmzeichen ist. Außerdem wurden die Teams von Ärzte ohne Grenzen auf dem Mittelmeer Zeugen, wie die libysche Küstenwache durch rücksichtsloses Verhalten Flüchtlinge in Gefahr gebracht hat. Die Unterstützung der libyschen Küstenwache muss ausgesetzt werden, solange die Sicherheit und Unversehrtheit der von ihr aufgegriffenen Bootsflüchtlinge nicht gewährleistet ist.
Wir erwarten von den EU-Innenministern und den Staats- und Regierungschefs, dass sie endlich ihrer Verantwortung gerecht werden und für eine ausreichende staatliche Seenotrettung sorgen. Unsere Schiffe sind im Mittelmeer, um Menschenleben zu retten, weil die EU bei dieser grundlegenden Aufgabe versagt. Die europäischen Marineschiffe haben in diesem Jahr bis zum 21. Juni nur zwölf Prozent der Menschen aus Seenot gerettet. Die große Mehrheit der Menschen wurden durch NGOs und die italienische Küstenwache gerettet. Unsere Teams arbeiten am Rande ihrer Kapazität. Die EU-Staaten müssen endlich Menschenleben retten, statt sich auf neue Vorschriften für NGOs zu fokussieren. Die EU-Regierungen müssen sichere und legale Fluchtwege schaffen, um dem skrupellosen Geschäft der Schlepper die Grundlage zu entziehen.
Wir beobachten, dass unsere lebensrettende Hilfe im Mittelmeer immer stärker durch unbelegte Vorwürfe von Staatsanwälten und politische Stellungnahmen diskreditiert wird. Aus Sorge über diese Entwicklung habe ich zusammen mit Vertretern von SOS Mediterranee und Sea-Watch vor knapp einem Monat einen Offenen Brief an die Bundeskanzlerin geschrieben. Wir warten immer noch auf eine Antwort.“
Hier finden Sie den Offenen Brief an Bundeskanzlerin Merkel.