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Zum Schattendasein gezwungen – Menschen mit HIV brauchen medizinische Lösungen, die ihren Lebenswelten entsprechen

Stigmatisierung, Diskriminierung, soziale Ausgrenzung, Gewalt und Kriminalisierung gehören zu ihrem Alltag: Menschen, die Drogen konsumieren oder aus einem anderen Grund zu den sogenannten Schlüsselpopulationen zählen, unterliegen einem deutlich höheren Risiko einer HIV-Infektion. Zugleich werden sie oft von HIV-Behandlung und Vorsorge sowie anderen Gesundheitsdiensten ausgeschlossen. Dabei machen sie beispielsweise in Osteuropa und Zentralasien zusammen mit ihren Sexualpartnern 97 Prozent der neu mit HIV Infizierten aus. Unsere Erfahrungen aus Projekten in Indien, Malawi und Mosambik zeigen, dass medizinische Angebote auf die individuellen Lebenswelten der Betroffenen ausgerichtet sein müssen.

„Viele unserer Patientinnen und Patienten in Manipur, Indien, sind Menschen, die Drogen injizieren“, erklärt Anita Mesic, HIV- und Tuberkulose-Expertin von Ärzte ohne Grenzen in Amsterdam. „Sie müssen mit einer hohen Krankheitsbelastung leben – HIV, Hepatitis C und Tuberkulose. Dazu kommen psychosoziale Probleme. Ihre komplexen medizinischen Bedürfnisse erfordern umfassende, maßgeschneiderte medizinische Programme, die Prävention und Pflege integrieren.“

Drogenkonsumenten gehören zu den sogenannten Schlüsselpopulationen. Gemeint sind jene Gruppen einer Gesellschaft, die unverhältnismäßig stark von HIV betroffen sind, deren Zugang zu Behandlung jedoch zugleich stark eingeschränkt ist. Zusammen mit ihren Sexualpartnerinnen und -partnern machen Schlüsselpopulationen 47 Prozent der neu mit HIV Infizierten weltweit aus. In Osteuropa und Zentralasien sind es sogar 97 Prozent.

Von der Polizei drangsaliert, von kriminellen Banden missbraucht, von Kliniken diskriminiert

Darüber hinaus zählen männliche und weibliche Sexarbeiter sowie Männer, die mit Männern Sex haben (MSM), zu den Schlüsselpopulationen. „Die größten Herausforderungen für diese Gruppen sind Stigmatisierung und Diskriminierung“, sagt Farisai Gamariel. Er ist Gruppenleiter für eine MSM-Gruppe in einem Projekt von Ärzte ohne Grenzen in Beira, Mosambik.

„Die Leute wissen nicht viel über MSM und Sexarbeiterinnen. Es herrschen viele Vorurteile. Das beeinträchtigt ihr Selbstwertgefühl und erschwert es ihnen, sich den Herausforderungen zu stellen, mit denen sie beim Zugang zum Gesundheitssystem konfrontiert sind. Einer unserer MSM-Patienten hat uns von seinem Besuch in einem Gesundheitszentrum erzählt. Er sagte, man habe ihn dort angesehen, als komme er von einem anderen Planeten. Er habe sich schlecht gefühlt und sich geschworen, nie wieder dorthin zu gehen.“

Lucy O'Connell, unsere Ansprechpartnerin zum Thema Schlüsselpopulationen im südlichen Afrika sagt: „In unseren Projekten haben wir festgestellt, dass Sexarbeiterinnen und MSM keinen Zugang zu Informationen darüber haben, wie sie sich vor HIV und anderen Krankheiten schützen können. Wenn sie sich um medizinische Versorgung bemühen, riskieren sie, eher belästigt zu werden als Hilfe zu erhalten. Sie sind gezwungen, im Verborgenen zu arbeiten, in gefährlichen Situationen, von der Polizei drangsaliert, von kriminellen Banden missbraucht und in Kliniken und Krankenhäusern diskriminiert zu werden.“

Es braucht Angebote, die den Lebenswelten der Betroffenen gerecht werden

„Sexarbeiterinnen in Mosambik werden stark ausgegrenzt. Es ist schwierig für sie, medizinische Hilfe in Gesundheitszentren in Anspruch zu nehmen“, erklärt Sebastiana, Gesundheitsfachkraft in unserem Programm in Beira. „Egal, ob sie aus anderen Ländern stammen oder aus Mosambik, die Gesundheitskarten von Sexarbeiterinnen werden in Kliniken oft nicht anerkannt. Wir arbeiten daran, das Bewusstsein für die gesundheitlichen Bedürfnisse von Sexarbeiterinnen und -arbeitern zu stärken. Wir haben eine Verbindung zwischen ihnen und den Gesundheitszentren geschaffen, um sicherzustellen, dass sie mit der Behandlung beginnen und diese fortsetzen können."

Die Erfahrungen von Ärzte ohne Grenzen in Mosambik, Malawi und Indien zeigen, dass Schlüsselpopulationen Gesundheitsdienste brauchen, die an ihre Lebensumstände angepasst sind. Sonst ist das Risiko hoch, dass sie aus Angst vor Diskriminierung medizinische Behandlungen vermeiden. "Um auf die Bedürfnisse der Schlüsselpopulationen eingehen zu können, müssen wir die besonderen Barrieren überwinden, die sie daran hindern, medizinische Versorgung zu erhalten. Wir müssen offen sein für lokal angepasste Lösungen. Langfristige internationale und nationale Finanzierung ist erforderlich und Schlüsselpopulationen müssen bei der Planung und Durchführung von medizinischen Programmen berücksichtigt werden", fordert Sidney Wong, medizinischer Leiter von Ärzte ohne Grenzen in Amsterdam.

Aktivitäten von Ärzte ohne Grenzen für Schlüsselpopulationen in Malawi und Mosambik

In Mosambik und Malawi bieten wir auf Gemeindeebene an die jeweiligen Bedingungen angepasste Maßnahmenpakete zur sexuellen und reproduktiven Gesundheit und zu HIV an. Diese umfassen neben der Beratung unserer Patientinnen und Patienten unter anderem Prä-Expositions-Prophylaxe, HIV-Tests und die Behandlung mit antiretroviralen Medikamenten. Insgesamt sind wir an sechs Projektstandorten entlang der wichtigsten Transportwege der Region tätig. In diesen Projekten wurden seit 2013 mehr als 9.000 Sexarbeiterinnen und –arbeiter und seit 2016 mehr als 330 MSM behandelt. Unsere Dienstleistungen orientieren sich an den Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation zu Schlüsselpopulationen.

Aktivitäten von Ärzte ohne Grenzen für Schlüsselpopulationen in Indien

Seit 2004 arbeiten wir in Manipur, Indien. 2.035 Menschen, die mit HIV leben, erhalten derzeit in unseren Einrichtungen antiretrovirale Behandlungen (Daten bis Mai 2018). In den Kliniken in Churachandpur, Chakpika-rong und Moreh (an der Grenze zu Myanmar) bieten wir qualitativ hochwertiges Screening, Diagnose und Behandlung von HIV, Tuberkulose, Hepatitis C und Co-Infektionen an. Ärzte ohne Grenzen bietet auch Beratungen an, die Patientinnen und Patienten über die Behandlungsmethoden aufklären, um eine erfolgreiche Zusammenarbeit im Behandlungsprozess zu gewährleisten. Darüber hinaus behandeln wir Patienten, die ausschließlich an Hepatitis C erkrankt sind, in einem Zentrum für Opioid-Substitutionstherapie (OST) in Churachandpur  sowie Partnerinnen und Partner von co-infizierten Patienten. Im Jahr 2017 haben wir zusätzlich mit der Behandlung von Hepatitis C im Bezirkskrankenhaus Churachandpur in Zusammenarbeit mit der Manipur AIDS Control Society begonnen, um ein vereinfachtes Versorgungsmodell einzuführen.