Palliativpflege: “Unsere Aufgabe ist nicht nur, Leben zu retten, sondern auch Leid zu lindern” - Interview
Im Zentrum medizinischer humanitärer Hilfe steht der Wunsch, akutes Leid zu behandeln und Leben zu retten. Doch wir sollten uns auch um schwerkranke Menschen kümmern, die nicht mehr geheilt werden können, und ihre Lage erträglicher machen. Ärzte ohne Grenzen arbeitet oftmals in Ländern, in denen es Gewalt, bewaffnete Konflikte oder andere schwierige Situationen gibt und wo Menschen Notfallhilfe benötigen. Wie in solchen Kontexten dennoch Patienten unterstützt werden können, die Palliativpflege benötigen, darüber haben wir mit unserem Spezialisten Amin Lamrous gesprochen.
Meist denkt man bei Palliativpflege daran, dass Menschen in den letzten Momenten ihres Lebens Medikamente erhalten, um ihr Leid zu lindern. Geht es nicht eigentlich um mehr?
Nicht alle Patienten, die Palliativpflege erhalten, sterben innerhalb kurzer Zeit. Zur Palliativmedizin gehören viele Maßnahmen, um das Leid eines Menschen mit einer schweren Krankheit zu lindern. Dessen Leid kann körperlich sein, aber auch psychisch, spirituell, kulturell, sozial ...
Bei der palliativen Pflege werden die Symptome der Krankheit sowie die Nebeneffekte der Therapie behandelt, wie zum Beispiel Erbrechen, Durchfall usw. Bei der Palliativmedizin wird nicht versucht, den Verlauf der Krankheit zu verändern. In bestimmten schweren Fällen sollte man aber auf Behandlung der Erkrankung abzielende Hilfe und palliative Pflege gleichzeitig beginnen. Je nach Verlauf der Krankheit wird die eine Art der Intervention mehr Gewicht bekommen als die andere – gleichzeitig wird versucht, die Balance zwischen beiden zu halten.
In verschiedenen Studien wurde die klassische kurative (auf Behandlung und Heilung der Krankheit abzielende) Versorgung mit der Kombinationsbehandlung aus kurativer und palliativer Versorgung verglichen. Dabei stellte sich heraus, dass die Patienten, die palliative Pflege erhielten, länger leben. Das ist auch schlüssig, denn sie spüren von Anfang an weniger körperlichen und seelischen Schmerz, und das beeinflusst ihren medizinischen Zustand.
Ein Schwerpunkt der Arbeit von Ärzte ohne Grenzen sind Notfallprogramme, z.B. in Konflikten. In solchen Situationen steht die Rettung von Leben im Vordergrund. Welche Situationen erlebt man in einer solchen Lage mit schwer erkrankten Patienten?
Stellen Sie sich beispielsweise einen Mann im Südsudan vor, der im fortgeschrittenen Stadium an Krebs erkrankt ist. Aus einem abgelegenen Dorf kommt er in ein Krankenhaus von Ärzte ohne Grenzen. Eigentlich würde man einen solchen Patienten in eine Klinik in die Hauptstadt überweisen. Doch was tun, wenn klar ist, dass es nicht einmal in der Hauptstadt ein Angebot für kurative Chirurgie gibt? Sollten wir ihn dennoch überweisen, obwohl das für ihn und seine Familie Leid bedeuten würde?
In unserem Krankenhaus können wir sowohl ihm als auch seiner Familie psychologische Unterstützung anbieten und eine Behandlung, die seine Schmerzen verringert. Was wir nicht tun sollten, ist, ihn in die Hauptstadt zu schicken, nur damit wir selbst mit so einer schmerzlichen Tatsache nicht umgehen müssen.
Ist es schwierig, Palliativpflege in Projekte der medizinischen Nothilfe zu integrieren?
Der “technische” Aspekt ist nicht kompliziert. Wir nutzen übliche Medikamente, die wir normalerweise in unseren Apotheken haben und die auch nicht besonders teuer sind. Der ethische Aspekt ist komplizierter: Unsere internationalen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus westlichen Ländern sind es gewohnt, dass die Schwelle zur Palliativpflege sehr hoch ist, wie beispielsweise in Europa oder Nordamerika. In unseren Einsätzen ist die Schwelle niedriger, da dort nicht die gleichen Technologien, Kapazitäten und Ressourcen zur Verfügung stehen. Wir haben daher keine andere Wahl, als früher mit der Palliativpflege zu beginnen. Das ist hart. Dennoch ist es ethisch, wenn es keine Alternative gibt.
Es gibt allgemein keine standardisierte Schwelle, an der man mit Palliativpflege beginnt. Es hängt eben sehr von verschiedenen Variablen wie dem jeweiligen Land, dem Patienten und seiner Krankheit ab. Ein Basiskonzept der Palliativpflege ist allerdings, im Team zusammenzuarbeiten. Denn es kann sehr belastend für einen Arzt oder eine Ärztin sein, das allein zu bewältigen. Die Patienteninformationen werden zwischen verschiedenem medizinischem Personal ausgetauscht, um gemeinsam die besten Entscheidungen für den betroffenen Menschen zu treffen.
Wie plant Ärzte ohne Grenzen zukünftig mit Palliativpflege umzugehen?
Wir finden es sehr wichtig, das Konzept in unsere medizinischen Aktivitäten zu integrieren. In Situationen, in denen nicht kurativ gearbeitet werden kann, können wir dann zumindest mit den uns zur Verfügung stehenden Möglichkeiten etwas für unsere PatientInnen und Patienten tun. Es ist sehr wichtig, sich daran zu erinnern, dass es nicht nur unsere Aufgabe ist, Leben zu retten, sondern auch Leid zu lindern. Wir müssen natürlich daran arbeiten zu verbessern, was wir tun, und wir sollten auch andere dazu bewegen, das Leben Betroffener zu verbessern.