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Fragmente aus Wellblech, ein bemalter Panzer und verlassene Türen

Chris McAleer ist Koordinator eines unserer größten Projekte in Bentiu im Südsudan. In dem von der UN geschützten Zeltlager leben mehr als 115.000 Vertriebene und das seit mehr als vier Jahren. Auf seinem Weg vom Camp in die nahegelegene Stadt passiert McAleer improvisierte Marktplätze, verlassene Häuser und zerstörte Städte. Es sind Zeugnisse der Vergangenheit, die sich mit der Gegenwart mischen, und die vor allem etwas über die ungewisse Zukunft der Südsudanesinnen und Südsudanesen verraten:

„Heute Morgen muss ich vom Lager zu unserem Standort in Bentiu. Diesen Weg habe ich schon unzählige Male zurückgelegt … also eigentlich nichts Besonderes. Aber während des Weges stoße ich auf drei Erinnerungen, die alle auf etwas hinweisen, das ich zu leicht vergessen hatte.

Wir verlassen das Zeltlager und gelangen auf eine terrakottafarbene, zerfurchte Straße mit tiefen, ausgetrockneten Rillen von Fahrzeugen, die in der Regenzeit von der üblichen Route abgewichen sind. Während die Sonne langsam aufgeht, fahren wir durch Rubkona, die Stadt zwischen dem Vertriebenenlager und Bentiu-Stadt. Wir kommen an einer Rinderherde vorbei, von denen es hier viele gibt. Die Straße ist leer zu dieser Zeit. Wir passieren nur wenige Menschen. Sie sind auf dem Weg zum Markt, der um diese Zeit öffnet.

Am Straßenrand steht ein Panzer – ein beruhigendes Zeichen

Die Bilder entlang des Wegs sind vertraut: Kleine Stände mit den gleichen Waren zu beiden Seiten, dann die Autowerkstatt mit mindestens einem Geländewagen ohne Frontscheibe. Die Kleidungsverkäufer mit ihrer großen Auswahl an bunten Stoffen und die Männer in den Teehäusern, die dicht gedrängt auf zusammengewürfelten Hockern und Stühlen sitzen. Die Stände und auch die Gebäude haben keine zwei Bauteile, die zueinander passen. Die verschiedenen Fragmente aus Wellblech und Holzbalken erinnern mich an die erste Tatsache, die ich über diesen Ort vergessen hatte: Rubkona wurde während der Kämpfe 2014 komplett zerstört. Die Einzelteile, aus denen die Stände bestehen, sind die Überreste dieser Zerstörung. Zusammengesetzt stellen sie den Versuch eines neuen Lebens dar.

Als wir Rubkona hinter uns lassen, fahren wir über eine Brücke. Direkt vor uns befindet sich die Tankstelle, jedoch sind die Zapfsäulen leer. Vermutlich wurde hier zuletzt getankt, bevor der Konflikt ausbrach. Jetzt dient sie als Stellplatz zweier verwaister Militärfahrzeuge. Ich blicke nach links und sehe einen Panzer, ein beruhigendes Zeichen. Denn er stand schon dort, als ich zum ersten Mal nach Bentiu kam, komplett bemalt, ohne Ziel. Der Panzer, zusammen mit der Vielzahl an Autowracks, die die Straße zu beiden Seiten säumen, stehen für die zweite Erinnerung: … Ich erinnere mich an mein erstes Mal, als ich vom Camp nach Bentiu fuhr. Es war im Februar 2016. Mein Fahrer nahm es auf sich, mir von den vielen Menschen zu erzählen, die auf der Flucht in ihren Autos gestorben sind.

Als wir die äußeren Bezirke von Bentiu erreichen, sehe ich mich meiner dritten Erinnerung gegenüber: Während der Regenzeit versteckt, tauchen jetzt aus dem Frühnebel der Trockenzeit zwei Ziegelsteinpfeiler wie Geister neben der Straße auf. Es sind nicht die einzigen. Auf dem Weg von der Brücke bis nach Bentiu findet man viele davon. Manche zur Straße hin ausgerichtet, andere zeigen zur Stadt, manche noch mit kaputten Türen in den Angeln. Das sind die subtilsten Erinnerungsstützen daran, wo wir uns befinden: Leere Türen zu Häusern, die es nicht mehr gibt.

Wie Rubkona wurde Bentiu-Stadt 2014 ebenfalls nahezu komplett zerstört. Die Bewohner flohen in das Zeltlager, in dem ich jetzt lebe und arbeite. … Während man die Überreste der Vergangenheit ausblenden kann, sind die Folgen klar ersichtlich. Im Camp leben heute, vier Jahre nach der Eröffnung, immer noch 115.000 Menschen. Die Mehrheit der Bewohner hat weiterhin Angst vor der Rückkehr nach Hause. Jeden Tag, den sie im Camp verbringen, leben sie in der Vergangenheit.

Statt traditioneller Nuer-Kultur bestimmen Gangstreitigkeiten den Alltag

Bei ihrer Eröffnung 2014 wurden die Vertriebenenlager in Bentiu und an anderen Orten im Südsudan als Schutz der Zivilbevölkerung begrüßt - ohne Zweifel wurden dadurch mehrere tausend Südsudanesen vor dem Tod bewahrt. … Das ist nun vier Jahre her. Die Situation der Bewohner ist allerdings immer noch verheerend und ihre Zukunft ungewiss. Das Leben steht still. Die Umstände außerhalb des Camps bedeuten, dass die Menschen nicht nach Hause zurückehren können. Das Leben innerhalb des Camps ähnelt dem, das sie davor hatten, kaum.

Viehzucht ist beispielsweise ein zentraler Bestandteil der Nuer-Kultur, die den Großteil der Bewohner des Camps ausmachen. Die Abwesenheit der Tiere bedeutet, dass die jüngeren Bewohner des Camps diese traditionelle Lebensweise nicht fortführen können, in der etwa Rinder für die Ehe eingetauscht werden, um in das Erwachsenenleben eintreten zu können. Was wir stattdessen sehen, sind Jugendliche, die in Gangs eintreten. Deren Kämpfe häufen sich im Camp. Wir behandeln regelmäßig Wunden, die durch Speere oder Macheten verursacht wurden und so massiv sind, dass wir notoperieren müssen.

Was innerhalb des Lagers Gang-Streitigkeiten sind, sind außerhalb Überfälle auf Rinderherden und ihre Besitzer. Eines Morgens wurden Leichen eines solchen Überfalles an unserer Umzäunung gefunden. Ein Mitarbeiter des Notfallteams half mir, die Toten in unsere Leichenhalle zu bringen. Um sie zu identifizieren, mussten wir jeden Leichensack öffnen. In den ersten warf mein Kollege einen Blick, sah mich direkt an und sagte ohne eine Gefühlsregung zu zeigen, dies sei sein Bruder. Ich hatte bereits Erfahrung mit der Identifikation von Toten, es ist immer mit einer Welle an Gefühlen verbunden. Aber dieses Mal schockierte mich die Abgestumpftheit und Ruhe meines Mitarbeiters am meisten. Ich weiß nicht, was der Grund für diesen Mangel an Emotionen ist, aber ich denke, es hängt mit der Ermüdung zusammen, dieses Leid immer und immer wieder zu sehen.

Ihre Vergangenheit ist ihre Gegenwart

Solche Erlebnisse erinnern uns, warum die Menschen immer noch im geschützten Zeltlager leben. Nicht weil sie es wollen. Wenn sie es nicht täten, würden sie in ständiger Angst leben, verfolgt oder getötet zu werden. Ihre Vergangenheit ist ihre Gegenwart, und der können sie nicht entkommen. Das müssen meine Kollegen und ich täglich in Erinnerung behalten. Wir müssen uns an die Hintergründe erinnern, die für diese Situation verantwortlich sind.

Mit diesen Gedanken im Kopf erreichen wir unser Ziel in Bentiu. Zeit, einen weiteren Arbeitstag zu beginnen.“