Mangelernährung: Die stille Epidemie im Tschad
“Kinder haben es hier sehr schwer”, erzählt Bernadette Ammaji. Sie kocht gerade Essen für mangelernährte Kinder und deren Mütter in unserem Ernährungszentrum in Bokoro-Stadt. „Manche Mütter haben einfach nicht die Mittel, um ihre Kinder ernähren zu können. Andere haben sie zwar, können sich aber trotzdem nicht richtig um die Kleinen kümmern, weil sie zu wenig über Themen wie Hygiene und Ernährung wissen. Du musst stark und tapfer sein, um hier ein Kind zu versorgen. Es ist nicht einfach.“ Fast die Hälfte aller Todesfälle bei Kindern im Land ist auf die endemisch auftretende Mangelernährung zurückzuführen.
Bernadette arbeitet als Köchin bei uns. Sie ist eine von mehr als 200 Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, die in unserem Ernährungsprojekt in dieser Region tätig sind. Mangelernährung ist in Bokoro endemisch, so wie in weiten Teilen des Tschads. Bokoro liegt rund 300 Kilometer östlich von der Hauptstadt N’Djamena, ungefähr im Zentrum des zentralafrikanischen Binnenstaats. Es ist zwar ein relativ stabiler Teil des Landes, wird aber auch vernachlässigt. Denn die Schlagzeilen dominiert die schleichende Verbreitung von Boko Haram im Nordwesten.
Von mobiler Hilfe bis zur stationären Versorgung
Wir betreiben in diesem Jahr in der Region Bokoro gemeinsam mit dem Gesundheitsministerium 15 mobile Ambulanzen für mangelernährte Kinder im Alter von sechs Monaten bis zu fünf Jahren. In der Stadt Bokoro befindet sich unser therapeutisches Ernährungszentrum in einem Krankenhaus des Ministeriums, wohin die schwächsten Kinder überstellt und in der Intensivstation versorgt werden. Alleine im Vormonat haben wir durchschnittlich 50 Kinder pro Woche von den Ambulanzen an das Ernährungszentrum überwiesen.
Kinder unter fünf Jahren wachsen schnell und benötigen mehr und vielfältigere Nährstoffe als ältere Kinder und Erwachsene. Für sie ist Mangelernährung besonders folgenschwer: Sie wachsen und entwickeln sich nicht mehr normal, sind anfälliger für Krankheiten und verlieren ihren Appetit. Ihr Leben gerät rasch in Gefahr.
Extremes Klima erschwert Überleben der Familien
Das Klima in Bokoro ist rau: Die Temperatur erreicht bis zu 45 Grad Celsius, und die Regenzeit ist nur sehr kurz. „Die Lebensbedingungen hier sind wirklich hart“, erklärt unsere Epidemiologin Suzanne Moher. „Jetzt ist es zwar grün, aber als ich vor ein paar Monaten hier ankam, gab es kein einziges Anzeichen von Leben.“ Die Bevölkerung hat dementsprechend nur wenige Monate Zeit, um genügend Nahrungsmittel anzupflanzen und zu ernten. Am häufigsten wird hier Hirse angebaut, und die Vorräte müssen für den Rest des Jahres reichen. Die meisten Menschen sind Bauern, eine schlechte Ernte kann für sie daher verheerend sein.
Derzeit bringen täglich hunderte Frauen ihre Babys zu unserer mobilen Ambulanz, denn die Zahl der mangelernährten Kinder erreicht ihren jährlich wiederkehrenden Höhepunkt. Die Familien können die neue Ernte noch nicht einfahren, doch die letzte Erntesaison war schlecht und einige Menschen haben bereits keine Nahrung mehr.
Mütter wissen zu wenig über Ernährung
In weiten Teilen von Bokoro herrscht auch ein großer Mangel an Wissen über Ernährung – ein weiterer Risikofaktor: „Statt Muttermilch geben Mütter ihren Kindern manchmal Ziegenmilch oder ‚Bouille‘, eine Art Hirsesuppe. Von diesem ‚Erwachsenen-Essen‘ bekommt das Baby jedoch Durchfall und in weiterer Folge Mangelernährung“, erklärt die Krankenschwester Benedicte La-Toumbayle.
Der Bildungsgrad im Tschad ist sehr niedrig – die Alphabetisierungsrate liegt bei nur 33 Prozent. Die meisten der Mütter, die zu uns kommen, haben nicht einen einzigen Tag die Schule besucht. Viele verstehen schlichtweg nicht, was ihre Kinder krank macht. Eine kurze Einführung in die Themen Hygiene und Ernährung ist daher besonders wichtig für sie.
Vorbeugung gegen chronische Mangelernährung ist dringend nötig
Auch in den vergangenen fünf Jahren haben wir bereits vier Mal Nothilfe-Aktivitäten gegen Mangelernährung gestartet. Nach und nach wurde jedoch klar, dass es sich nicht um einmalige Notfälle handelt, sondern um ein Muster mit komplexen, verwobenen Zusammenhängen. Dieses Jahr starteten wir daher die mobilen Ambulanzen bereits im Januar statt erst im Juli, also bevor die Fälle an Mangelernährung mit dem Einsetzen der Regenzeit von Mai bis Oktober drastisch zunehmen. Seitdem haben unsere Teams mehr als 9.400 Babies und Kinder gegen schwere Mangelernährung behandelt.
In diesem Jahr haben wir zudem eine weitere Komponente zum Projekt hinzufügen, um Babys und Kleinkinder vorbeugend vor Mangelernährung zu schützen.
Verteilung von Spezialnahrung an gefährdete Kinder
„Die Kinder, die wir erreichen wollen, sollten noch gesund sein – aber dem Risiko einer Mangelernährung ausgesetzt sein“, erklärt Elizair Djamba, die diese Aktivitäten leitet. „Wir verteilten in Bokoro an solche Kinder erstmals Rationen einer therapeutischen Fertignahrung. So haben sie die Chance, gesund zu bleiben.“ Im Rahmen dieser präventiven Maßnahme verteilten wir Spezialnahrung, Moskitonetze und Seife an mehr als 30.000 Mütter im Gebiet Bokoro. Dazu wurden kurze Schulungen zu den Themen Gesundheit und Ernährung angeboten.
Die Arbeit ist hart, doch die Teams sind davon überzeugt, dass diese Maßnahme ein dringend notwendiger Schritt gegen die immer wieder aufflammende Mangelernährung im Land ist. „Oft beginnt es wie aus Kübeln zu schütten, wenn wir die Verteilstationen erreichen“, erzählt Elizair. „Aber wir müssen da draußen mit den Frauen im Regen sein und ihnen zeigen, dass sich der Aufwand lohnt.“