Auch mehr als zwei Jahre nach Ausbruch des Ukrainekonflikts sind im Gebiet um die Frontlinie Tausende Menschen völlig auf sich allein gestellt. Die Auseinandersetzungen forderten seit Mai 2014 mehr als 9.300 Todesopfer und rund 21.500 Verletzte (laut der UN-Mission zur Überwachung der Menschenrechte in der Ukraine, HRMMMU). Auch wenn der Konflikt nicht mehr im Zentrum der internationalen Aufmerksamkeit steht, sterben bei häufig vorkommenden Verstößen gegen die 2015 vereinbarte Waffenruhe weiterhin regelmäßig Menschen.
Eine große Belastung ist der verschleppte Konflikt vor allem für jene, die auf dem Höhepunkt der Kämpfe nicht fliehen konnten und nahe der Front zwischen den ukrainischen Regierungstruppen und den prorussischen Rebellen zurückbleiben mussten, wo Gefechte und Beschuss nach wie vor an der Tagesordnung sind. Besonders ältere Menschen sind betroffen und haben vor Ort oft keine oder wenig Unterstützung. Viele von ihnen leiden an psychischen Beschwerden und Menschen mit chronischen Krankheiten haben nur stark eingeschränkten Zugang zu medizinischer Versorgung.
Ärzte ohne Grenzen ist momentan eine der wenigen internationalen Organisationen, die die Menschen in den konfliktnahen Gebieten mit dringend benötigter medizinischer und psychologischer Hilfe unterstützt. Die Teams in Bachmut und Mariupol betreiben mobile Kliniken und versorgen verschiedene Einrichtungen mit Medikamenten und Material. Dabei versorgen sie rund 40 verschiedene Orte, um auch die hilfsbedürftigsten Menschen erreichen zu können. Sie behandeln die Menschen in verlassenen und leerstehenden Schulgebäuden sowie Gemeinde- und Gesundheitseinrichtungen. Selbst Häuser und Wohnungen wurden von Privatleuten für die Sprechstunden zur Verfügung gestellt.
Obwohl der Betrieb in manchen Gesundheitseinrichtungen allmählich wieder anläuft, bleibt in vielen Dörfern, die gefährlich nahe am Konfliktgeschehen liegen, das medizinische Personal weiter fern. In manchen Gegenden müssen zahlreiche Kliniken weiterhin ohne Medikamente auskommen, während anderswo die Gesundheitseinrichtungen teilweise oder vollständig zerstört wurden.
Behandlung chronischer Krankheiten
Unzureichende Möglichkeiten zur Behandlung chronischer Krankheiten wie Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen stellen eines der größten Probleme bei der medizinischen Versorgung älterer Menschen dar. In Städten wie Mariupol, in denen viele Menschen Zuflucht vor dem Konflikt gesucht haben, leiden die Einwohner unter der hohen Arbeitslosigkeit und der ungebremsten Inflation. Chronisch Kranke können sich notwendige Behandlungen oft schlicht nicht leisten. Werden sie nicht behandelt, steigt das Risiko medizinischer Komplikationen jedoch erheblich.
Mehr als fünfzig Prozent der von Ärzte ohne Grenzen behandelten Patienten leiden an Herz-Kreislauf-Erkrankungen, was auch auf die hohe Zahl älterer Patienten zurückzuführen ist. Überdies leiden zehn Prozent der Patienten an Diabetes.
Die Betreuung chronisch kranker Patienten ist eine große Herausforderung, vor allem in solchen Gebieten, die aufgrund der Sicherheitslage schwer zu erreichen sind. „Bei Patienten mit chronischen Krankheiten ist es unabdingbar, dass die Therapie nicht unterbrochen wird“, sagt Dr. Gabriela Das, medizinische Koordinatorin für Ärzte ohne Grenzen. „Zur Verhinderung von Komplikationen bekommt deshalb jeder Risikopatient, den wir nicht regelmäßig persönlich betreuen können, bis zur nächsten Behandlung eine ausreichende Medikamentenreserve.“
Laut Schätzungen finden sich unter den 1,75 Millionen vom Konflikt vertriebenen Menschen über eine Million Senioren. Da die monatliche Durchschnittsrente nur 42 Euro beträgt und die Medikamente für chronische Krankheiten mit etwa 14 Euro pro Monat bereits ein Drittel dieser Rente ausmachen, können sich viele Senioren eine Behandlung nicht leisten.
Hartnäckige psychische Beschwerden
Nach zwei Jahren, in denen der Konflikt unzählige Familien und Gemeinden zerstört hat, sind viele Menschen seelisch traumatisiert. Besonders häufig betroffen sind ältere Menschen. Nachdem sie Abschied von Kindern und Enkelkindern nehmen mussten, die der Konflikt in die grösseren Städte getrieben hat, haben viele Senioren mit Einsamkeit und fehlendem emotionalem Rückhalt zu kämpfen. Da sie dem Konflikt unmittelbar ausgesetzt sind, leiden sie häufig unter Ängsten und Depressionen.
Raisa zum Beispiel ist achtzig Jahre alt und lebt in Taramtschuk, einem kleinen Dorf nahe der Front. Da das Haus der Rentnerin im August 2014 bei einem Angriff zerstört wurde, bewohnt sie nun das Haus eines Nachbarn, der wegen des Konflikts aus dem Dorf geflohen ist. „Wir fühlen uns verloren und haben große Angst“, erklärt Raisa. „Ständig hören wir, wie geschossen wird. Das Leben hier ist schrecklich, manchmal denke ich sogar an Selbstmord. In meinem Alter noch mit einer solchen Situation fertig werden zu müssen, lässt mich regelrecht verzweifeln.“
Seit Juli 2014 umfasst das Behandlungsangebot von Ärzte ohne Grenzen deshalb auch psychologische Unterstützung. 18.000 Einzel- und Gruppensitzungen haben die Teams seitdem durchgeführt, wobei ältere Menschen einen bedeutenden Teil der Hilfesuchenden ausmachten.
„Die Senioren, die zu uns kommen, haben oft mit Ängsten und dem Gefühl zu kämpfen, dass der Konflikt sie um den Verstand bringt“, sagt Viktoria Brus, Psychologin in Kurachowe. „Sie werden vergesslich, sind still und sagen kein Wort. Wir betonen in unserer Arbeit ihre wichtige Rolle in der Familie, vermitteln unkomplizierte Bewältigungsstrategien und zeigen einfache Maßnahmen auf, mit denen sie ihr Befinden verbessern können – zum Beispiel, indem sie in ihrem Dorf das Gespräch mit anderen Menschen suchen.“
Mehr als die Hälfte der Menschen, die bei Ärzte ohne Grenzen therapeutische Hilfe suchen, leidet unter Ängsten. „Die weite Verbreitung von Angstzuständen rührt daher, dass so viele Menschen dem Konfliktgeschehen direkt ausgesetzt sind“, sagt Dr. Das. „Auch Hoffnungslosigkeit und die als ungewiss empfundene Zukunft tragen zu dieser Situation bei. Der psychische Stress kann wiederum die Symptome körperlicher Leiden verschlimmern, wie wir zum Beispiel oft bei Patienten mit Bluthochdruck beobachten. Obwohl sie dagegen behandelt werden, leiden die Patienten aufgrund der psychischen Belastung dennoch oft unter Atembeschwerden, Herzrasen und Schlafstörungen. Um also die körperlichen wie auch seelischen Gesundheitsrisiken der Patienten zu minimieren, ist es äußerst wichtig, dass neben der psychologischen Betreuung auch angemessene medizinische Hilfe angeboten wird.“
Kein Zugang zu Gebieten, die nicht unter Kontrolle der Regierung stehen
Bis Oktober 2015 war Ärzte ohne Grenzen beidseits der Frontlinie tätig und leistete Unterstützung sowohl in von der Regierung kontrollierten als auch in den außerhalb ihrer Kontrolle stehenden Gebieten. Im Oktober 2015 wurde der Organisation jedoch von den selbsternannten Volksrepubliken Lugansk und Donezk die Tätigkeit untersagt. Derzeit dürfen die Teams von Ärzte ohne Grenzen nur in jenen Gebieten Hilfe leisten, die sich unter der Kontrolle der ukrainischen Regierung befinden. „Als unsere Teams aus Lugansk und Donezk ausreisen mussten, mussten wir Tausende hilfsbedürftiger Patienten zurücklassen“, sagt Mark Walsh, Landeskoordinator in der Ukraine. „Besonders sorgen wir uns um die Patienten, die an Diabetes, chronischem Nierenleiden, Herzerkrankungen und Tuberkulose leiden. Um den Menschen auf beiden Seiten des Konfliktes helfen zu können, planen wir nach wie vor, unsere Tätigkeit in Donezk und Lugansk sobald wie möglich wieder aufzunehmen.“
2015 belieferte Ärzte ohne Grenzen 350 medizinische Einrichtungen auf beiden Seiten der Frontlinie mit Medikamenten- und medizinischem Material und stellte die medizinische Versorgung von mehr als 9.900 Patienten mit konfliktbedingten Verletzungen sowie von über 61.000 chronisch Erkrankten sicher. Zudem wurden 5.100 Geburten begleitet. Die Teams haben in Zusammenarbeit mit dem Gesundheitsministerium außerdem 159.900 allgemeinmedizinische Sprechstunden und 12.000 psychologische Beratungen geleistet. Ärzte ohne Grenzen betreibt auch Erste-Hilfe- und Wasser-Stationen an den Kontrollpunkten Nowotroizke, Saizewe und Majorsk, um den Menschen, die dort in langen Schlangen in der Sommerhitze warten müssen, zu helfen.
Beendigung der Tätigkeit in der Region Bachmut Ende Juli 2016
Nach zwei Jahren, in denen Ärzte ohne Grenzen in Bachmut und Umgebung dringend benötigte medizinische und humanitäre Hilfe leistete, wird die Organisation ihre Aktivitäten dort Ende Juli 2016 einstellen. Mehrere der Projekte in der Region werden zusammen mit Material und Ausrüstung an andere Nichtregierungsorganisationen übergeben, welche die Hilfsaktivitäten in den kommenden Monaten fortführen werden.