„Eine unmögliche Entscheidung“ – Gewalt auf dem Weg ins Krankenhaus
Weitab von der Weltöffentlichkeit ereignet sich in der Zentralafrikanischen Republik ein humanitäres Desaster: Die Zivilbevölkerung zahlt einen unmenschlichen Preis für die anhaltende Gewalt. Ärzte ohne Grenzen fordert anlässlich der Geberkonferenz in Brüssel am 17.11. eine deutliche Aufstockung der Mittel für medizinische Aktivitäten, denn die Weltgemeinschaft zieht derzeit ihre Nothilfe-Unterstützung zurück.
Unser Krankenpfleger Elysé Tando aus Boguila arbeitet seit fast zehn Jahren für Ärzte ohne Grenzen in der Zentralafrikanischen Republik. Er schildert in diesem persönlichen Bericht die Situation im konflikterschütterten Land und welche Auswirkungen die Gewalt auf die Menschen hat.
„Ich bin aus Boguila im Nordwesten des Landes. Hier lebe ich und arbeite als Krankenpfleger bei Ärzte ohne Grenzen und das seit bereits fast zehn Jahren. Die Lage ist momentan nicht besonders gut. Ich habe sogar den Punkt erreicht, mich zu fragen, ob ich mein Land verlassen sollte. In diesem Gebiet sind viele bewaffnete Gruppen aktiv; eine davon plant, unsere Stadt als Basis zu nutzen. Natürlich wollen das die Vorsteher unserer Gemeinde nicht, und sind gegen dieses Vorhaben. Daher werden sie durch diese Gruppe verfolgt und bedrängt, oder aufgrund ihres Widerstands sogar systematisch getötet.
Die Anhänger dieser gewalttätigen Gruppe plündern Wohngebiete und rauben Menschen aus, wenn sie Geld oder sonst etwas benötigen. Sie verstecken sich im Buschland entlang der Hauptstraßen und überraschen Fußgänger und fordern alles, was diese Person hat. Wenn man ihnen die Sachen gegeben hat, wird man anschließend noch verprügelt oder sogar getötet. Wir hören diese Geschichten die ganze Zeit – alle zwei oder drei Tage! Meistens bleiben sie jedoch nicht lange, weil sogenannte „Selbstverteidigungs-Gruppen“ sie wegjagen, wenn bekannt wird, dass sie Menschen ausrauben.
„Menschen haben Angst, in ein Krankenhaus zu fahren.“
Die Folge all dieser Gewalt ist, dass die Menschen Angst haben, zu einem Krankenhaus zu fahren. Ärzte ohne Grenzen ist die einzige Organisation, die kostenlose Gesundheitsversorgung in dieser Region anbietet. Es gibt eine Einrichtung von uns in Paoua, das liegt rund 80 Kilometer entfernt. Ein anderes Krankenhaus ist in Bossangoa, dorthin muss man 115km fahren. Manchmal erkennen wir,dass eine bewaffnete Gruppe entlang einer gewissen Straße aktiv ist, weil wir merken, wenn aus dieser Richtung keine Patienten mehr zu uns kommen. Wir wissen nicht, wie viele Leben hätten gerettet werden können, wenn diese Menschen an jenen Tagen einen Zugang zu unserer Hilfe gehabt hätten.
Vor ein paar Monaten wurde der Fahrer eines Motorrad-Taxis auf der Straße gleich vor Boguila getötet. Anscheinend hatte man ihn ausgeraubt und anschließend ermordeten die Banditen ihn. Danach hatten die anderen Taxi-Fahrer zu viel Angst, die Stadt zu verlassen – sie fürchteten sich davor, dass ihnen das gleiche passieren könnte. Es war unmöglich, jemanden zu finden, der Patienten mit einem speziellen Versorgungsbedarf in eine andere Einrichtung bringen konnte. Zwei Babys starben während dieser Zeit: Sie hatten Blutarmut aufgrund einer Malaria-Infektion. Doch wir konnten sie nicht dorthin überweisen, wo sie die notwendige Hilfe bekommen hätten.
Kranke sterben, weil sie zu spät oder keine Hilfe bekommen
Kürzlich starb einer unserer Patienten – ein junger Mann im Alter von 21 Jahren – an Meningitis. Er kam einfach zu spät. Seine Familie brachte ihn um ca. 7 Uhr morgens zu uns, nachdem er in der Nacht krank geworden war. Sie konnten ihn in der Dunkelheit aber nicht in das Krankenhaus bringen, weil es schlichtweg zu unsicher ist. In derselben Woche war ihrem Dorf ein Mann ausgeraubt und getötet worden; sie fanden seinen Leichnam im Buschland. Am Morgen nahmen sie ein Motorrad-Taxi und fuhren zu unserem Gesundheitszentrum. Doch weil schon so viel Zeit vergangen war, erreichter uns der junge Mann in einem sehr schlechtem Zustand. Er verstarb, während ich seinen Überweisungsschein ausfüllte.
HIV-infizierte Menschen in und um Boguila sind mit demselben Problem konfrontiert: Dem massiv eingeschränkten Zugang zu medizinischer Hilfe. Sie kommen normalerweise zu uns, um ihre antiretroviralen Medikamente zu erhalten und wenn sie an einer Begleit-Infektion erkranken, behandeln wir sie hier im Gesundheitszentrum. Doch kürzlich hörte ich von insgesamt vier Todesfällen in einer nahegelegenen Stadt, in der sich eine bewaffnete Gruppe niedergelassen hatte. Unsere Patienten konnten ihre Medikamente nicht abholen oder zu uns ins Zentrum kommen, und starben Zuhause. Was für ein furchtbarer, schrecklicher Tod.
„Ich bleibe lieber Zuhause und begrabe mein Kind.“
Wir wissen tatsächlich nicht, wie hoch der Preis dieser Gewalt wirklich ist. Wenn die Straßen dermaßen unsicher sind, können sich die Menschen nicht bewegen - entweder, weil sie Angst haben, oder weil sie physisch davon abgehalten werden. Deshalb bekommen wir sie gar nicht zu Gesicht. Wenn du mit Frauen sprichst, die ihre Kinder zu spät ins Krankenhaus bringen, sagen sie: „Ich bleibe lieber Zuhause und begrabe mein Kind, als dass ich mich auf den Weg mache und auf der Straße angegriffen werde.“
"Es ist eine unmögliche Entscheidung.“
Ärzte ohne Grenzen unterstützt das Krankenhaus in Boguila bei der Versorgung von HIV/AIDS, bei Impfkampagnen, bei externen Beratungen, im Bereich reproduktiver Gesundheit sowie die Apotheke, das Labor und die ambulante Ernährungsstation. Ein internationales Teams reist einmal pro Woche nach Boguila, um unseren lokalen Gesundheitsfachkräften zu helfen. Ärzte ohne Grenzen verringerte die Aktivitäten und zog alle internationalen Einsatzkräfte ab, nachdem das Krankenhaus im April 2014 angegriffen worden war. Bei diesem Übergriff wurden 19 Menschen getötet, darunter drei MitarbeiterInnen von Ärzte ohne Grenzen.