„Sechs Jahre habe ich diese Last auf meinen Schultern getragen.“ - Überlebende sexualisierter Gewalt brechen ihr Schweigen
In der Zentralafrikanischen Republik ist sexualisierte Gewalt ein Tabuthema. Dabei ist sie weit verbreitet in dem von Konflikten gebeutelten Land. Allein 2018 unterstützten wir landesweit fast 4.000 Überlebende sexualisierter Gewalt. Aus Mangel an Hilfsangeboten hat Ärzte ohne Grenzen sein Projekt im „Bangui Community Hospital“ auf die Außenbezirke der Hauptstadt ausgeweitet. Mehrere Aufklärungskampagnen schärfen das Problembewusstsein. Auch Jahre nach ihren schrecklichen Erlebnissen suchen Betroffene nun unsere psychologischen Teams auf.
Mit zitternder Stimme beschreibt Olga, was passiert ist: "Nachmittags bin ich von Zuhause weggegangen, um auf einem Feld in der Nähe des Flughafens etwas Yucca zu ernten. Auf dem Weg dorthin haben mich zwei mit Macheten bewaffnete Männer abgefangen und mir befohlen, mich hinzusetzen. Einer der Männer hielt mir die Augen zu, der andere fing an mich auszuziehen.“
Das ist der Anfang einer Geschichte, wie sie fast jede oder jeder der Tausenden Frauen, Männer und Kinder erzählen könnte, die in Bangui, Hauptstadt der Zentralafrikanischen Republik, sexualisierte Gewalt erfahren haben. Allein im Tongolo-Projekt des „Bangui Community Hospital“ haben wir in der ersten Hälfte dieses Jahres mehr als 800 Patient*innen behandelt.
Nicht mal ein eigenes Wort für „Vergewaltigung“
Oft ist es den Überlebenden nicht möglich, über ihre Erlebnisse zu sprechen, aus Sorge, die Familie könne beschämt werden. In einigen lokalen Sprachen gibt es nicht einmal ein eigenes Wort für „Vergewaltigung“. Dabei sind die Folgen für die Betroffenen lebensbedrohlich. "Ich habe mehrmals darüber nachgedacht, mir das Leben zu nehmen. Ich habe mich geschämt, wenn ich die Straße entlanggegangen bin - ich dachte, alle schauen mich an. Nachts kann ich nicht schlafen", schildert Olga (41), ihre Situation einer Psychologin, die im Tongolo-Projekt Überlebende sexualisierter Übergriffe behandelt. „Tongolo“ bedeutet „Stern“ auf Sango, der zweiten Amtssprache im Land neben Französisch.
Ein Grund für das hohe Vorkommen sexualisierter Gewalt in der Zentralafrikanischen Republik ist die seit Jahren konstante Atmosphäre von Angst und die Präsenz von bewaffneten Männern an fast jeder Straßenecke. "Aber hier kommt es auch häufig zu sexualisierten Übergriffen zwischen Nachbarn oder innerhalb der Familie", erklärt Beatriz García, Koordinatorin des Projekts. „In den meisten Fällen wird der Vorfall innerhalb er Gemeinschaft oder zwischen den Familien geklärt. Dabei wird vergessen, dass dies ein medizinischer Notfall ist, der versorgt werden muss."
Zeitnahe Hilfe ist der Schlüssel, um die Folgen abzumildern
Um mehr Menschen den Zugang zur Behandlung zu ermöglichen, wurde das Projekt des „Bangui Community Hospital“ bis in die Außenbezirke der Stadt ausgeweitet und ein neues Hilfsangebot im Distrikt Bédé-Combattant eröffnet. "Wir sind sicher, dass die Überlebenden dadurch in weniger als 72 Stunden nach einem Angriff zu uns kommen können. Dies ist der Schlüssel, um mögliche Folgen abzumildern", erklärt die Beatriz García. So bekam Olga im Tongolo-Projekt nur 24 Stunden nach dem Übergriff eine Prophylaxe verschrieben, um sie vor sexuell übertragbaren Krankheiten wie HIV zu schützen.
Dank verschiedener Aufklärungskampagnen beginnt die Bevölkerung, das Ausmaß des Problems zu erkennen. Viele Überlebende melden sich noch lange nach dem Übergriff bei unseren Mitarbeiter*innen, manchmal Jahre später. So auch Martine (53). Während der Kämpfe im Jahr 2013 hatte sie in einem Wald Zuflucht gesucht. Dort wurde sie von zwei bewaffneten Männern überfallen und vergewaltigt. Bisher habe sie niemandem erzählt, was passiert ist: „Ich fühle mich erleichtert. Sechs Jahre habe ich diese Last auf meinen Schultern getragen.“ Von jetzt an wird Martine jede Woche eine kostenlose Sprechstunde bei unserem psychiatrischen Dienst wahrnehmen.
Ein Angebot insbesondere auch für Männer und Kinder
Über die von Ärzte ohne Grenzen angebotenen medizinischen Leistungen hinaus gibt es für Opfer sexualisierter Gewalt keine rechtliche oder soziale Unterstützung, um die Herausforderungen, die ein Übergriff nach sich zieht, zu bewältigen. Umso wichtiger ist es, dieses Problem sichtbar zu machen, um die Aufmerksamkeit von internationalen Geldgebern, den zentralafrikanischen Behörden und humanitären Organisationen zu gewinnen.
Das Tongolo-Projekt ist offen für die gesamte Bevölkerung, legt jedoch einen besonderen Schwerpunkt darauf, dass auch Kinder und Männer behandelt werden können. Diese Fälle sind noch weniger sichtbar. „In der Zentralafrikanischen Republik gibt es viele Männer, die sexualisierte Übergriffe erlebt haben, aber Angst haben, darüber zu sprechen. Kaum einer von ihnen kommt in unsere Behandlungszentren. In der Bevölkerung herrscht großer Druck und eine sehr starke Stigmatisierung “, so Beatriz García.