
Kriegsverletzte in der Ukraine: Mit einem neuen Ansatz zurück ins Leben
Seit der Eskalation des Krieges in der Ukraine im Februar 2022 ist die Zahl der Menschen mit Verletzungen, die eine komplexe Versorgung benötigen, dramatisch gestiegen.
Viele der im Krankenhaus von Tscherkasy behandelten Verletzungen sind auf Explosionen zurückzuführen. Wir haben immer mehr Patient*innen, denen Gliedmaßen amputiert werden müssen. Sie brauchen aber mehr als nur eine medizinische Behandlung und späte psychologische Unterstützung, wie es früher der Fall war. Wir bieten eine ganzheitliche Unterstützung: psychologische Hilfe, Krankenpflege und Physiotherapie. In unseren Rehabilitationsprojekten in Tscherkasy und Odesa können wir feststellen, wie entscheidend es für die psychische Verfassung und Genesung der Menschen ist, eine solche ganzheitliche Versorgung von Anfang ihrer medizinischen Behandlung zu bekommen.
Auf der medizinischen und physiotherapeutischen Seite gilt es, Schmerzen zu lindern, langfristige Komplikationen und Risiken wie Infektionen und Muskelschwund zu verhindern. Wenn wir auf der anderen Seite ihren emotionalen Zustand stabilisieren, helfen wir ihnen rechtzeitig, etwaige Depressionen zu verringern oder zu vermeiden. So tragen wir dazu bei, ihre Lebensqualität zu verbessern, ihre Unabhängigkeit wiederzuerlangen und ermöglichen es ihnen, sich selbst zu versorgen.
Einseitige Behandlungsansätze können Folgeschäden verursachen
Wenn die Patient*innen unsere Rehabilitationsabteilung erreichen, sind sie oftmals schon in 2 oder 3 anderen Krankenhäusern behandelt worden. Neben den Primärverletzungen der Patient*innen stoßen wir häufig auf Komplikationen wie Muskelschwund und Gelenkversteifung. Das liegt daran, dass die Chirurg*innen oft die Unversehrtheit des Gewebes und den Wundheilungsprozess in den Vordergrund stellen. Der Fokus liegt somit nicht auf der Wiederherstellung der Funktionalität der Gliedmaßen, obwohl dies für eine effektive Rehabilitation der Patient*innen notwendig ist und um Folgeschäden zu vermeiden. Oftmals behandeln wir Patient*innen, die in kurzer Zeit 20, 30 oder sogar 40 Operationen hinter sich haben.
Volodymyr, 42, kam beispielsweise mit Bein- und Armverletzungen zu uns. Einer seiner Finger musste amputiert werden. Er litt unter schweren Angstzuständen, Schlafstörungen und Albträumen - was bei unseren Patient*innen weit verbreitet ist. Die Amputation seines Fingers war für ihn als Gitarrist und Tontechniker ein lebensverändernder Einschnitt. Er sagte: “Ich hab alles Seelische über meine Finger zum Ausdruck gebracht, und jetzt kann ich nicht mehr spielen! ” Die Unterstützung durch Psycholog*innen war für ihn sehr wichtig, um die Amputation zu akzeptieren.
Wir beobachten oftmals, dass die Einstellung der Patient*innen und die Unterstützung, die sie von Familie und Freund*innen erhalten, eine entscheidende Rolle für ihre erfolgreiche Genesung spielen. Wir bieten daher nicht nur psychologische Einzelbetreuung an, sondern auch Gruppensitzungen. Mit den Angehörigen der Patient*innen eng zusammenzuarbeiten, gehört ebenfalls zu unserem Konzept.
Personalmangel als Herausforderung
Trotz der eindeutigen Vorteile eines multidisziplinären Ansatzes in der rehabilitativen Versorgung ist die Umsetzung in ukrainischen Krankenhäusern eine Herausforderung. Derzeit sind zu wenige Mitarbeitende in den entsprechenden Bereichen qualifiziert. Wir hoffen jedoch, dass sich dies in den kommenden Jahren ändern wird. Denn es gibt mehr Studierende in den Bereichen Physiotherapie, Ergotherapie und klinische Psychologie, die in wenigen Jahren in den Beruf einsteigen können.
Um die große Kluft zwischen dem hohen Bedarf der Patient*innen und der begrenzten Anzahl qualifizierter Mitarbeiter*innen zu überwinden, müssen wir die vorhandenen Ressourcen bestmöglich nutzen. Unsere Teams arbeiten daher eng mit dem ukrainischen Gesundheitsministerium und anderen Partnern zusammen, um diesen ganzheitlichen Ansatz von Tscherkasy und Odesa auf weitere Regionen auszudehnen. Um einen Eindruck von den Dimensionen zu geben: Wir haben beispielsweise allein seit November vergangenen Jahres mehr als 7.800 physiotherapeutische Sitzungen abgehalten. Jedoch decken wir mit unserer Arbeit in den verschiedenen Bereichen der Reha momentan weniger als 10 % des Gesamtbedarfs im Land ab. Gern würden wir dorthin kommen, die dauerhaften Folgen von Kriegsverletzungen für die Menschen in der gesamten Ukraine zu lindern.