Fragen und Antworten zum Verhaltenskodex Seenotrettung
Ärzte ohne Grenzen wird mit der 2015 begonnenen Seenotrettung im Mittelmeer, in Koordination mit der Leitstelle für Seenotrettung im Rom (MRCC) und in Übereinstimmung mit allen relevanten internationalen Gesetzen, darunter auch dem Seerecht, fortfahren. Am 31. Juli hat die Organisation das italienische Innenministerium darüber informiert, dass sie den Verhaltenskodex für Nichtregierungsorganisationen (NGO) auf dem Mittelmeer nicht unterzeichnen wird. Der Hauptgrund ist, dass er die sowieso schon unzureichenden Seenotrettungskapazitäten weiter einschränkt. Vor dieser Entscheidung hatten mehrere Gespräche zwischen Ärzte ohne Grenzen und dem Innenministerium stattgefunden. Doch der Bitte von Ärzte ohne Grenzen, unabdingbare humanitäre Prinzipien zu achten, wurde nicht entsprochen. Dazu gehört beispielsweise, Polizei an Bord nicht zu bewaffnen.
Warum hat Ärzte ohne Grenzen den Verhaltenskodex für NGOs nicht unterzeichnet?
Mehrere der Verpflichtungen, die im Verhaltenskodex verankert sind, können zu einem Rückgang von Effizienz und Kapazität der derzeitigen Such- und Rettungseinsätze führen, was gravierende humanitäre Konsequenzen nach sich ziehen würde und Menschenleben kosten könnte. Der Verhaltenskodex ist nicht so formuliert, dass er die Such- und Rettungseinsätze sicherer und effektiver macht.
Wesentlich für Ärzte ohne Grenzen ist, dass der Verhaltenskodex den humanitären Prinzipien widerspricht, die der Grundstein für unsere Arbeit sind. Wir können bewaffnete Polizisten nicht an Bord unseres Schiffes lassen – ebenso wenig wie wir bewaffneter Polizei, Militär oder anderen Konfliktparteien Zugang zu unseren medizinischen Einrichtungen und Krankenhäusern weltweit gewähren. Waffen müssen in all unseren Projekten in 70 Ländern vor Zutritt abgegeben werden.
Die Bedenken von Ärzte ohne Grenzen:
1) Leben zu retten ist nicht das einzige Ziel des Verhaltenskodex
Die Einführung des Verhaltenskodex macht deutlich, dass das Kernziel des Kodex nicht ist, Leben zu retten. Wir hatten um Anpassung der Einleitung des Dokuments gebeten, sie blieb aber unverändert. Wir erkennen an, dass Italien mit der Ankunft der Geretteten weitgehend alleine gelassen wird. Es ist legitim, dass Italien Solidarität mit anderen EU-Mitgliedsstaaten sucht, aber es ist nicht legitim, dass lebensrettende humanitäre Rettungsreaktionen für eine weitergehende Agenda genutzt werden. Alleinige Aufgabe sollte sein, Leben zu retten. Seenotrettung ist keine Wahl, sie ist eine Verpflichtung und sollte daher oberste Priorität haben.
Wir haben darum gebeten, dass der Kodex als ein Instrument eingeführt und konzipiert wird, das sicherstellt, dass die Such- und Rettungsaktionen effektiv und effizient ablaufen - mit der Anerkennung des Unterschieds zwischen humanitären Such- und Rettungsaktionen einerseits und Grenzkontrolle und Migrationspolitik andererseits. Jedoch bleibt der Kodex nach wie vor ein Instrument der Migrationspolitik.
2) Der Verhaltenskodex ist zweideutig, die zentralen Klauseln bleiben unklar
Im Rahmen unserer Gespräche mit dem italienischen Innenministerium haben wir um die Klärung mehrerer Punkte gebeten, jedoch keine zufriedenstellenden Antworten erhalten. Beispielsweise sollte der Terminus „ernste und drohende Gefahr, die sofortige Hilfe erfordert" ganz klar definiert sein. Selbst im Beratungsprozess konnte dies allerdings nicht geklärt werden. Die Definition ist auch nicht in Einklang mit jener, die von der EU-Behörde für Grenz- und Küstenschutz (Frontex) für „Not“ verwendet wird.
Ebenso ist die Verpflichtung unklar, zunächst den Staat, unter dessen Flagge ein Schiff fährt, und die nächstgelegene offizielle Such- und Rettungsregion zu kontaktieren, bevor die Leitstelle für Seenotrettung in Rom (MRCC) kontaktiert wird: Wer übernimmt die Verantwortung für die Seenotrettung und für die Identifizierung eines sicheren Hafens, in den die Menschen gebracht werden sollen? Werden die Rettungseinsätze dadurch verzögert? Wo bislang Klarheit herrschte, stehen nun unklare Maßgaben im Raum.
Zudem kann der Kodex so interpretiert werden, dass unsere Teams verpflichtet sind, sich aktiv an Strafverfolgungs- und Ermittlungsmaßnahmen zu beteiligen, die außerhalb des Bereichs unserer medizinisch-humanitären Aufgabe liegen. Dies könnte unsere Neutralität ernsthaft beeinträchtigen und daher auch unsere Fähigkeit, an anderen Orten Zugang zu Menschen in Not zu erlangen. Darüber hinaus hat dies auch Auswirkungen auf die Sicherheit unserer Teams auf See, in Libyen und auf der ganzen Welt.
3) Wenn das Umsteigen von Geretteten von einem Rettungsschiff auf ein anderes nicht mehr erlaubt ist, werden weniger Schiffe vor Ort sein können, um Leben zu retten.
Im Verhaltenskodex gibt es Klauseln, die das sogenannte „transshipment“ thematisieren, also das Umsteigen von Geretteten von einem Schiff auf ein anderes. Das Umsteigen wird darin nicht ausdrücklich verboten, die Klausel macht aber deutlich, dass Nichtregierungsorganisationen Transfers in der Regel vermeiden und direkt zurück zum Hafen fahren sollen. Dies könnte kleinere Schiffe von Nichtregierungsorganisationen (NGO) ohne nennenswerte eigene Aufnahmekapazitäten abschrecken, auf See zu arbeiten. Sie sind darauf angewiesen, Gerettete auf größere Schiffe zu übergeben. Eine solche Einschränkung verringert die allgemeinen Such- und Rettungskapazität, was wiederum Leben kostet.
Wenn zudem allen humanitären Organisationen vorgeschrieben wird, nach jeder Rettung nach Italien zurückzukehren, sind die Schiffe für bis zu einer Woche nicht für Rettungen verfügbar. Das kann zu kritischen Lücken auf See, verspäteten Rettungen und einem erhöhten Risiko für die verzweifelten Menschen führen, die von Libyen aus über das Meer fliehen. Die Such- und Rettungsboote im Mittelmeerraum sind bereits überlastet und diese Klausel des Verhaltenskodex wird wahrscheinlich dazu führen, dass sich die Anzahl der Schiffe reduziert und es zu weiteren Tragödien kommt.
Seit vergangenem Jahr beobachten wir, dass Schlauchboote mit Geflüchteten in Schüben von Libyen abfahren. Zeitweise waren wir von bis zu zwanzig überfüllten Gummibooten gleichzeitig umgeben, deren Passagiere dringend gerettet werden mussten. In solchen Fällen hat die Unterstützung von kleineren Schiffen mit Rettungswesten, Wasser und Erster Hilfe zweifellos Leben gerettet, auch ohne dass diese Menschen an Bord nahmen. Obwohl also kleinere Rettungsboote manchmal Menschen aus Gefahrensituationen retten, führt dies schnell zu problematischen Überbelegungen an Bord. Die Mannschaft und die geretteten Menschen wären gefährdet, wenn kleine Schiffe dazu gezwungen wären, die geretteten Menschen zurück nach Italien zu transportieren.
Das Umsteigen von Geretteten auf andere Schiffe ist ein wichtiges Instrument in den international anerkannten Such- und Rettungsleitlinien. Bislang hat die Seenotrettungsleitstelle (MRCC) in Rom häufig kleinere Schiffe angewiesen, die geretteten Menschen an größere Schiffe abzugeben. Der Grund ist, dass dies der sicherste Weg ist, um Leben zu retten und gleichzeitig sicherzustellen, dass ausreichend Rettungsschiffe für weitere Einsätze verfügbar sind.
Wie ist der Verhaltenskodex politisch einzuordnen?
Der Verhaltenskodex scheint die Perspektive zu verankern, dass Staaten die Lebensrettung auf Nichtregierungsorganisationen (NGO) auslagern können, um die eigenen Bemühungen auf Marine- und Militäroperationen konzentrieren zu können. Die Verantwortung für die Koordinierung und Durchführung von Such- und Rettungseinsätzen auf See liegt jedoch von jeher bei den Staaten. Daher füllen unsere gegenwärtigen Rettungsaktionen lediglich eine Lücke, die die europäische Politik entstehen ließ. Als wir 2015 mit unseren Such-und Rettungsaktivitäten begannen, hofften wir, dass diese Lücke zeitlich begrenzt sein würde. Wir haben die europäischen Staaten immer wieder dazu aufgefordert, einen engagierten und proaktiven Such- und Rettungsmechanismus einzurichten, um Italien bei seinen Bemühungen zu unterstützen, Leben auf See zu retten. Falls der Verhaltenskodex die Vorstellung etablieren sollte, dass die Such- und Rettungsaktivitäten nicht in der Zuständigkeit der Staaten lägen, wäre dies ein gefährlicher Präzedenzfall.
Die Menschen, die wir in Libyen in den Internierungslagern um Tripolis versorgen und die Menschen, die wir auf See retten, waren unmenschlichen Behandlungen ausgesetzt. Die von der italienischen Regierung und der EU vorgeschlagene Strategie ist darauf ausgerichtet, Migranten und Flüchtlinge durch militärische Operationen und durch die Unterstützung der libyschen Küstenwachen in Libyen festzuhalten. Dies ist äußerst besorgniserregend. Libyen ist kein Ort, an den Menschen zurückgebracht werden sollten. Weder von europäischem Territorium noch vom Meer aus. Wir glauben weder, dass Such- und Rettungsaktionen die Lösung im Umgang mit Menschen auf der Flucht sind, noch dass sie Todesfälle auf dem Meer verhindern. Aber sie sind notwendig, solange es keine anderen sichere Alternativen für Menschen gibt, Schutz zu suchen. Es kann keine akzeptable Lösung sein, die einzige und letzte verbleibende Möglichkeit zu blockieren, die diese Menschen haben, um vor Gewalt und Ausbeutung zu fliehen.
Hier beantworten wir allgemeine Fragen zu unseren Such- und Rettungseinsätzen auf dem Mittelmeer.