Griechenland: 940 Schutzsuchende seit Juni 2022 auf Lesbos verschwunden - Situation in den Lagern katastrophal
Athen/Berlin, 26. Mai 2023. Seit Ärzte ohne Grenzen im Juni 2022 auf Lesbos ankommende Schutzsuchende versorgt, sind 940 Menschen verschwunden. In den beiden Lagern auf der griechischen Insel, Mavrovouni und Megala Therma, beobachtet die medizinische Nothilfeorganisation eine Abschreckungspolitik und Verschlechterung der Situation für Geflüchtete und Migrant*innen. Der Grund sind zahlreiche Berichte, dass Menschen entführt, ins Meer zurückgedrängt oder inhaftiert werden. Ärzte ohne Grenzen fordert die griechischen Behörden auf, den Berichten über Hunderte Vermisste und womöglich ins Meer zurückgedrängte Schutzsuchende nachzugehen und sichere und menschenwürdige Aufnahmebedingungen auf der Insel zu schaffen.
„Was wir auf den griechischen Inseln sehen, ist Teil einer grausamen Abschreckungsstrategie, die mit der Reform des EU-Asylsystems europaweit Realität werden könnte”, sagt Felix Braunsdorf, Experte für Flucht und Migration bei Ärzte ohne Grenzen. „Wir fordern von der Bundesregierung, sich der Entwertung europäischer Grund- und Menschenrechte und der Erosion rechtsstaatlicher Grundsätze entschieden entgegenzustellen."
Die Teams von Ärzte ohne Grenzen auf Lesbos werden vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) und anderen Akteuren alarmiert, wenn Migrant*innen auf Lesbos ankommen und dringend medizinische Hilfe benötigen. „Wir versorgen seit Juni 2022 mit Booten auf Lesbos ankommende Menschen medizinisch. Seitdem konnten wir etwa 940 Menschen nicht wieder auffinden”, sagt Nihal Osman, Projektkoordinatorin von Ärzte ohne Grenzen auf Lesbos.
Mehrere Patient*innen berichten, dass sie bei früheren Versuchen, Griechenland zu erreichen, gewaltsam abgefangen und aufs Meer zurückgedrängt worden sind. „Wenn wir alarmiert werden, dass Menschen ankommen, die dringend medizinische Hilfe benötigen, verbringen wir oft Stunden, manchmal Tage, nach ihnen zu suchen, da sie sich oft in Wäldern verstecken", beschreibt Osman. „Sie haben uns von Begegnungen mit maskierten Männern erzählt, die sich als Ärzte ausgaben, um ihr Vertrauen zu gewinnen, oder, wie kürzlich in der New York Times berichtet wurde, sogar als Ärzte ohne Grenzen. Wenn sich dies bestätigt, ist das eine inakzeptable und schwerwiegende Manipulation humanitärer Hilfe.“
Schutzsuchende, die auf Lesbos ankommen, werden je nach Ankunftsort in zwei Zentren geschickt: Mavrovouni und Megala Therma. In Mavrovouni, einem der von der EU finanzierten sogenannten geschlossenen Zentrum mit kontrolliertem Zugang (Closed Controlled Access Centers, CCAC), wurden 2023 rund 2.700 Menschen untergebracht. Diese geschlossenen Zentren wurden als Verbesserung der Lebensbedingungen von Schutzsuchenden vermarktet, schränken aber die Bewegungsfreiheit der Menschen stark ein und sind gefängnisähnliche Einrichtungen.
Am 17. Mai stellten die griechischen Behörden die Bereitstellung von Lebensmitteln für anerkannte Geflüchtete und Menschen, denen internationaler Schutz verweigert wird, ein und kündigten Pläne an, sie zu vertreiben. „Das Ministerium setzt eine Reduktion der Lebensmittel als Druckmittel ein, um die Menschen zu zwingen, die Einrichtung zu verlassen“, sagt Osman. Außerdem werden Kindern von Familien, denen internationaler Schutz verweigert wurde, ihre Sozialversicherungsnummern entzogen, wodurch sie keinen Anspruch auf Grundimpfungen haben.
Ärzte ohne Grenzen appelliert an die griechischen Behörden und Europäische Kommission:
- Eine sofortige Untersuchung der Behauptungen einzuleiten, dass Menschen von nicht identifizierten maskierten Personen bedroht, entführt und misshandelt werden, die sich systematisch an Pushbacks beteiligen und Menschenleben an Land und auf See gefährden.
- Die willkürliche Inhaftierung von nicht registrierten Neuankömmlingen in Megala Therma zu beenden und ihren unverzüglichen Zugang zu Registrierung, menschenwürdigen Aufnahmebedingungen und die Bereitstellung grundlegender Dienstleistungen zu gewährleisten.
- Eine qualitative hochwertige, zeitnahe medizinische Versorgung zu gewährleisten, einschließlich medizinischer Notfallversorgung in den Aufnahmezentren. Der rechtliche Status von Menschen darf nicht dazu führen, dass diese von lebenswichtigen Dienstleistungen, wie der Versorgung mit Nahrung und Unterkunft oder medizinischer Versorgung ausgeschlossen werden. Im Einklang mit der EU-Aufnahmerichtlinie muss allen Neuankömmlingen, die in Griechenland Schutz suchen, Zugang zu Gesundheitsversorgung, Schutz und humanitärer Hilfe gewährt werden.
An die Bundesregierung richtet Ärzte ohne Grenzen den Appell,
- sich bei den Verhandlungen zum Gemeinsamen Europäischen Asylsystem (GEAS) dafür einzusetzen, dass diese Zustände und die damit verbundene Abschottungspolitik nicht entlang der gesamten EU-Außengrenze zum Standard werden.