Ärzte ohne Grenzen alarmiert über Verschlechterung der psychischen Gesundheit von Geflüchteten und nahenden Winter
Vier Monate nach dem Großbrand im Geflüchtetenlager Moria müssen weiterhin mehr als 15.000 Frauen, Männer und Kinder bei stetig sinkenden Temperaturen auf den griechischen Inseln ausharren. Entgegen anderslautender Ankündigungen europäischer Politiker*innen hat sich an den Lebensbedingungen dieser Menschen nichts verbessert. Stattdessen beobachten die Teams von Ärzte ohne Grenzen eine zunehmende Verschlechterung der psychischen Gesundheit ihrer Patient*innen. Allein auf Lesbos wurden in diesem Jahr 49 Kinder mit Suizidgedanken oder nach Suizidversuchen behandelt.
Auf der Insel Samos werden derzeit etwa 3.500 Menschen in einem Lager zusammengepfercht, das ursprünglich für 648 Menschen ausgelegt war, die Bedingungen vor Ort sind katastrophal. Der Zugang zu Duschen und Sanitäranlagen für die Menschen ist unzureichend, Heizungen gibt es nicht und ein großer Teil der Behausungen wurde von den Geflüchteten selbst provisorisch errichtet, um überhaupt ein Dach über dem Kopf zu haben.
Das Team für psychische Gesundheit von Ärzte ohne Grenzen hat im Lager Vathy auf Samos in den vergangenen Monaten eine steigende Zahl von Patient*innen verzeichnet. 60 Prozent der neuen Patient*innen, die im November in die Klinik von Ärzte ohne Grenzen gekommen sind, haben etwa Suizidgedanken ausgesprochen. 37 Prozent von ihnen wurden von den Expert*innen als suizidgefährdet eingestuft. Die Teams von Ärzte ohne Grenzen beobachten die Lage weiter.
Auf Lesbos leben mehr als 7.000 Asylsuchende, darunter 2.500 Kinder, weiterhin in Zelten, die regelmäßig unter Wasser stehen, da sie der Witterung ungeschützt ausgesetzt sind. Der jüngste Vorfall in dem Lager, bei dem ein drei Jahre altes Mädchen im Lager vergewaltigt wurde, zeigt erneut, wie unsicher die Lebensbedingungen und wie mangelhaft die Schutzmaßnahmen sind. Eine Unterbringung dieser Menschen in sichere Unterkünfte, in denen sie eine gewisse Würde wahren können, ist weiterhin dringend nötig.
Seit dem Brand und der Errichtung des neuen Lagers Kara Tepe auf Lesbos haben die Psycholog*innen von Ärzte ohne Grenzen alarmierende Symptome bei den Patient*innen festgestellt. Dazu gehören unter anderem Schlafwandeln, Albträume, regressives Verhalten, Selbstverletzungen und Suizidgedanken.
Lindsay Solera-Deuchar, Psychiaterin von Ärzte ohne Grenzen auf Samos
„Nach jedem kritischen Ereignis wie den Bränden, dem jüngsten Erdbeben oder auch dem Lockdown haben wir in unserer Klinik eine Zunahme schwerer Fälle festgestellt, mit einem zutiefst besorgniserregenden Anstieg der Suizid- und Selbstverletzungsgedanken von Menschen, die im Lager gefangen sind.
Die Menschen hier werden bereits seit langer Zeit unter diesen schlechten Lebensbedingungen festgehalten. Gepaart mit der anhaltenden Unsicherheit in Bezug auf Asylanträge trägt dies dazu bei, dass sich die psychischen Gesundheitsprobleme der Bewohner*innen des Lagers verschärfen. Viele von ihnen haben bereits traumatische Ereignisse in ihrem Herkunftsland oder während ihrer Flucht nach Griechenland erlebt. Ohne Aussicht auf Lösung dieser strukturellen Probleme ist es unmöglich, unseren Patient*innen eine wirksame Behandlung zu bieten. Sie brauchen eine sichere und stabile Umgebung, um sich zu erholen.“
Thanasis Chirvatidis, Kinderpsychologe auf Lesbos
“Wir sehen weiterhin Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung, Symptome von Depressivität und einige extreme Fälle von reaktiver Psychose, Selbstverletzungen und Suizidgedanken. Die schwersten Fälle von Kindern, die wir sehen, sind diejenigen, die isoliert sein wollen oder den Wunsch zum Ausdruck bringen, ihr Leben zu beenden. Sie wollen die ganze Zeit im Zelt sein, sie wollen keine Kontakte knüpfen und sie wollen tatsächlich sterben, um den Schmerz zu stoppen. Sie wollen einaufhören, sich so zu fühlen.“
Stephan Oberreit, Einsatzleiter von Ärzte ohne Grenzen in Griechenland
„Trotz all der Versprechungen der EU haben die Brände in Moria, auf Samos und Chios die gesundheitsschädigende Abschreckungspolitik auf den griechischen Inseln nicht beendet, und die Menschen müssen einen weiteren Winter unter unmenschlichen Bedingungen, dem Wetter schutzlos ausgesetzt, überstehen – in völliger Verzweiflung und inmitten einer globalen Pandemie.
Zu allem Übel sieht die Zukunft noch hoffnungsloser aus. Ein neues "Mehrzweck-Aufnahme- und Identifizierungszentrum" wurde in fünf Kilometer Entfernung vom Lager Vathy auf Samos an einem abgelegenen Ort errichtet und wird bald eröffnet, ein weiteres wird auf Lesbos entstehen. Ein langer Stacheldraht soll die Menschen einsperren und umgibt sogar die Kinderspielplätze. Um es klar zu sagen: Diese alptraumhaften Pläne führen die inakzeptable EU-Migrationsstrategie fort und werden unermessliches menschliches Leid erzeugen, das so noch unsichtbarer wird."
Ärzte ohne Grenzen fordert die EU und die griechischen Behörden auf, alle Asylsuchenden, insbesondere die schutzbedürftigsten, sofort in sichere Unterkünfte zu bringen und den für uns inakzeptablen Plan der großen, neuen geschlossenen Lager an den Grenzen zu überdenken, die die Menschen nur noch weiter einsperren und die psychischen Probleme der Geflüchteten massiv verschlimmern werden. Die griechischen Behörden müssen Maßnahmen ergreifen, um psychisch Kranke auf den Inseln besser zu schützen und die schutzbedürftigsten Menschen in sichere Unterkünfte auf dem Festland oder in anderen EU-Staaten zu evakuieren.“