Italien: Gewalt und Pushbacks an der italienisch-französischen Grenze
Ventimiglia/Berlin, 4. August 2023. Menschen auf der Flucht sind an der französisch-italienischen Grenze oftmals Gewalt ausgesetzt. Das geht aus dem neuen Bericht „Denied Passage – The continuous struggle of people on the move pushed-back and stranded at the Italian-French border“ der internationalen Nothilfeorganisation Ärzte ohne Grenzen hervor. Für den Bericht wurde die Lage von Geflüchteten in der Stadt Ventimiglia im Nordwesten Italiens untersucht, die viele auf dem Weg nach Frankreich durchqueren. Den Recherchen zufolge werden Geflüchtete an der Grenze oft unmenschlich behandelt und willkürlich inhaftiert. In Italien bekommen sie keine angemessene Unterkunft und haben nur eingeschränkten Zugang zu medizinischer Versorgung.
Unser Team hat miterlebt, wie extrem schutzbedürftige Menschen von der französischen Polizei wahllos zurückgedrängt wurden, ohne Rücksicht auf ihre individuellen Umstände und ohne angemessene Untersuchung.
- Sergio Di Dato, Projektkoordinator von Ärzte ohne Grenzen in Ventimiglia
Ärzte ohne Grenzen unterstützt die Menschen in Ventimiglia mit mobilen Teams. Zwischen Februar und Juni 2023 wurden 320 Patient*innen medizinisch behandelt. 215 von ihnen hatten akute Erkrankungen, darunter Haut-, Atemwegs- und Magen-Darm-Erkrankungen sowie Muskel-Skelett-Beschwerden und Verletzungen. 14 Patient*innen litten an chronischen Krankheiten wie Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. 684 weitere Geflüchtete wurden aufgeklärt oder beraten.
Von den insgesamt 1.004 Menschen, die Ärzte ohne Grenzen zwischen Februar und Juni unterstützt hat, haben 80 Prozent angegeben, dass sie zuvor mehrfach versucht hatten, nach Frankreich zu gelangen. Sie wurden an der französischen Grenze zurückgedrängt. Diese Männer, Frauen und Kinder sind somit nach der Flucht aus ihren Herkunftsländern und einer sehr gefährlichen Reise erneut Gewalt, Demütigung, Drohungen und unmenschlichen Bedingungen in Europa ausgesetzt.
„Wir wurden gestern in Nizza von der Polizei angehalten“, sagte Jean*, ein Mann aus Côte d’Ivoire, dem Team von Ärzte ohne Grenzen in Ventimiglia. „Meine Frau ist schwanger. Sie wurde ins Krankenhaus gebracht, weil sie ohnmächtig wurde, als man ihr Handschellen anlegte. Mein zweijähriger Sohn und ich wurden zur Grenzpolizeistation in Menton gebracht. Wir haben die Nacht in der Kälte verbracht und heute Morgen wurden wir zurückgeschickt und nach Italien gebracht, aber wir haben keine Nachricht von meiner Frau“.
Viele der von Ärzte ohne Grenzen angetroffenen Personen berichteten über Verfahrensverstöße bei der Einreiseverweigerung durch französische Behörden. So wurden persönliche Daten falsch aufgenommen oder Informationen nicht weitergegeben. Mehrere Personen berichteten dem Team von Ärzte ohne Grenzen, dass sie über Nacht willkürlich in Containern festgehalten wurden, ohne besonderen Schutz für Frauen und Kinder. Sie berichteten auch, dass Nahrung und Wasser nicht regelmäßig bereitgestellt werden, die medizinische Versorgung oft verweigert wird, die sanitären Einrichtungen unzureichend sind und sie bei Überbelegung auf dem Boden schlafen müssen. Darüber hinaus haben die Mitarbeiter*innen von Ärzte ohne Grenzen in Ventimiglia allein im Berichtszeitraum mindestens vier Fälle von Familientrennungen bei Pushbacks festgestellt, die in einigen Fällen zu Traumata bei den Opfern – unter ihnen auch Kinder – führten.
Trotz der kürzlich erfolgten Eröffnung von zwei neuen Erstaufnahmezentren in der Stadt, in denen besonders schutzbedürftige Menschen, die aus Frankreich zurückgedrängt werden, für einige Nächte Zuflucht finden können, sind Dutzende von Transitreisenden immer noch gezwungen, auf der Straße oder in Behelfsunterkünften zu schlafen. Zwei von vier versprochenen Erstaufnahmezentren sind immer noch nicht in Betrieb, und grundlegende Dienstleistungen wie Unterbringung, Gesundheitsversorgung und Rechtsbeistand werden von lokalen Vereinigungen und der Zivilgesellschaft erbracht.
„Die Notsituation in Ventimiglia ist exemplarisch für den Trend in der europäischen Migrationspolitik, Abschottung und Abwehr von Geflüchteten über die Einhaltung von Grundrechten und internationalen Schutz zu stellen”, sagt Sergio Di Dato. Ärzte ohne Grenzen appelliert an Italien, Frankreich und andere europäische Länder, alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um weiteren Schaden von diesen schutzbedürftigen Menschen abzuwenden. Deswegen fordert die Organisation:
- Die systematischen und wahllosen Pushbacks sowie die erniedrigende und unmenschliche Behandlung an den Binnen- und Außengrenzen der Europäischen Union müssen ein Ende haben
- Die willkürliche Inhaftierung von Menschen und die Gewalt an den Grenzen müssen aufhören
- Der Zugang zu medizinischer Versorgung und menschenwürdigen Lebensbedingungen für geflüchtete Menschen muss in Ventimiglia, in ganz Italien und in Europa sichergestellt werden
- Sichere und legale Wege für Menschen, die in Europa Hilfe und Schutz suchen, müssen gewährleistet und verbessert werden
- Alle Personen, insbesondere Kinder, sollten ihr Recht in Anspruch nehmen dürfen, auf französischem und europäischem Territorium Asyl zu beantragen
Hier finden Sie den Bericht in voller Länge (auf Englisch).