Ärzte ohne Grenzen beklagt lange Wartezeit bei Ausschiffung von Geretteten
Rom/Berlin, 11. November 2022. Nach zehn Tagen auf See und drei Tagen des Wartens im Hafen von Catania konnten alle Überlebenden an Bord des Rettungsschiffes Geo Barents am Dienstag endlich an einem sicheren Ort an Land gehen. Die italienischen Behörden hatten zunächst nur die Ausschiffung von 357 Personen erlaubt, woraufhin 215 Menschen an Bord zurückbleiben mussten. Sie waren damit Geiseln einer politischen Debatte und einer rechtswidrigen Entscheidung, die sie daran hinderten, dringend benötigte Hilfe und Schutz an Land zu erhalten.
„Die Selektion nach dem Gesundheitszustand der Geretteten und die verzögerte Ausschiffung durch die italienischen Behörden sind unmenschlich, inakzeptabel und rechtswidrig. Nach internationalem Seerecht müssen Überlebende, die auf See gerettet wurden, innerhalb einer angemessenen Zeit an einen sicheren Ort gebracht werden. Die einschlägigen Rechtsinstrumente und Leitlinien machen die Ausschiffung an einem sicheren Ort nicht davon abhängig, ob medizinische Beschwerden oder anderer Gründe vorliegen”, sagt Juan Matias Gil, Einsatzleiter von Ärzte ohne Grenzen an Bord der Geo Barents, des Rettungsschiffes von Ärzte ohne Grenzen.
„Die verantwortlichen Küstenstaaten sollten vielmehr alle Anstrengungen unternehmen, um die Zeit, die die Geretteten an Bord des hilfeleistenden Schiffes bleiben, so kurz wie möglich zu halten. Dabei müssen die besonderen Umstände einer Rettung, die Situation an Bord des hilfeleistenden Schiffes und die medizinischen Bedürfnisse berücksichtigt werden", erklärt Gil.
Nach der Selektion an Bord durch die Behörden hatte sich der psychische und physische Zustand einiger verbliebener Menschen dramatisch verschlechtert. Ein Geretteter wurde in der Nacht vom 6. auf den 7. November wegen starker Bauchschmerzen evakuiert, andere Menschen an Bord zeigten Anzeichen von Angstzuständen und hatten Panikattacken.
„Viele der Geretteten waren bereits traumatisiert, weil sie in Libyen, in ihren Heimatländern oder auf der Reise Gewalt und Missbrauch erlebt hatten. Die lange Wartezeit führte zu starken emotionalen und psychischen Belastungen. Episoden von Schlaflosigkeit, Angstzuständen und physischen und psychischen Problemen wurden von Tag zu Tag häufiger. Und wir hatten keine Antworten, wenn wir gefragt wurden, warum wir nicht von Bord gehen konnten", sagt Stefanie Hofstetter, medizinische Einsatzleiterin von Ärzte ohne Grenzen auf der Geo Barents.
Die Geo Barents hat den Hafen von Catania am 10. November verlassen und wird sich auf einen neuen Rettungseinsatz für Menschen in Not vorbereiten. Dies ist und bleibt die Antwort von Ärzte ohne Grenzen auf die rücksichtslose europäische und nationale Politik der unterlassenen Hilfeleistung auf See, die Menschen zum Ertrinken verurteilt und sich weigert, sie an einem sicheren Ort an Land zu bringen.
„Als humanitäre Organisation werden wir, im Einklang mit dem internationalen Seerecht, an dem wir unsere Einsätze stets orientieren, die Rettungen auf See fortsetzen. Eine Rettungsaktion beginnt mit der Bergung von Menschen aus dem Wasser und endet, wenn alle Überlebenden an einem sicheren Ort an Land gegangen sind", sagt Gil.
Ärzte ohne Grenzen führt seit 2015 Such- und Rettungsaktionen im Mittelmeer durch. Seit Beginn der Aktivitäten mit dem Rettungsschiff Geo Barents im Mai 2021 haben Teams der Organisation 5.497 Menschen gerettet und die Leichen von insgesamt elf Menschen geborgen, die auf See gestorben sind.