Ärzte ohne Grenzen kritisiert Einigung der EU zu Krisenverordnung
Brüssel/Berlin, 6. Oktober 2023. Die internationale humanitäre Organisation Ärzte ohne Grenzen kritisiert die Einigung der EU-Mitgliedstaaten auf die sogenannte Krisenverordnung. Sie stelle eine ernsthafte politische Missachtung des Schutzes von Menschenleben dar.
„Die Verordnung ist weit davon entfernt, eine Lösung für das unermessliche Leid und die Not der Menschen zu bieten, die an Europas Grenzen Sicherheit und Schutz suchen“, sagt Felix Braunsdorf, Experte für Flucht und Migration von Ärzte ohne Grenzen Deutschland. „Stattdessen ermöglicht sie es den europäischen Staaten, sich weiter von ihrer Verantwortung gegenüber den Schutzsuchenden zu entfernen“, sagt Braunsdorf.
Die Krisenverordnung, die an die aktuellen Verhandlungen über das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) der EU geknüpft ist, legt fest, wie die Mitgliedstaaten künftig mit einer drohenden „Krise“ durch einen plötzlichen Anstieg der Zahl der Asylsuchenden umgehen können. Zudem erlaubt die Verordnung die Aushebelung von Asylrecht bei Situationen von „höherer Gewalt“ für den Fall der „Instrumentalisierung von Migration“.
Anstatt das kaputte Asylsystem zu reparieren sowie sichere und legale Wege für Menschen in Not zu garantieren, duldet dieses neue Abkommen implizit die schädlichen Praktiken, die wir in ganz Europa sehen.
- Felix Braunsdorf
Seit Jahren behandelt Ärzte ohne Grenzen die physischen und psychischen Folgen der unmenschlichen europäischen Migrationspolitik. Eine Politik, die den Begriff der „Krise" und der „Instrumentalisierung" zum Anlass nimmt, Mindeststandards und Rechte abzubauen.
Im Rahmen der Projekte von Ärzte ohne Grenzen in Griechenland, Polen, Litauen, Libyen und auf dem Mittelmeer konnten Mitarbeitende der Organisation beobachten, wie die europäischen Staaten aus dem Begriff der „außergewöhnlichen Maßnahmen“ Kapital geschlagen haben, um die Schutzmaßnahmen für Menschen zu verringern, die sich in größter Not befinden. Dies führte dazu, dass ein Nährboden für gewalttätige Praktiken wie Pushbacks an den Grenzen und lange, willkürliche Inhaftierungen entstanden ist. So konnte unter anderem durch das Abkommen zwischen Italien und Libyen ein System der Ausbeutung, Erpressung und des Missbrauchs entstehen, in dem so viele Menschen gefangen sind.
Derartige Maßnahmen dienen häufig auch dazu, unabhängige humanitäre Hilfe und die Überwachung durch die Zivilgesellschaft einzuschränken, wodurch die Hilfe für Menschen in Not immer schwieriger wird. Hierfür gibt es zahlreiche konkrete Beispiele: Infolge der Nothilfemaßnahmen in 2021 und 2022 in Polen konnten Teams von Ärzte ohne Grenzen beispielsweise keine medizinische Nothilfe leisten, nachdem ihnen der Zugang zur militarisierten Grenzzone verwehrt wurde. Im Winter 2021/2022 starben mehr als 21 Menschen an den Grenzen von Belarus zu Polen und Litauen.
Ärzte ohne Grenzen fordert die europäischen Staaten auf, unverzüglich einen politischen Kurswechsel vorzunehmen, die Sicherheit der Schutzsuchenden in den Vordergrund zu stellen und die Instrumentalisierung menschlichen Leids für politische Zwecke zu unterlassen.