Ein Jahr geschlossene Häfen: Europäische Politik führt weiter zu Toten im Mittelmeer
Berlin, 12. Juni 2019. Vor einem Jahr hat sich Italien dazu entschlossen, seine Häfen für zivile Rettungsschiffe zu schließen. Seitdem sind mindestens 1.151 Männer, Frauen und Kinder im zentralen Mittelmeer ertrunken. Mehr als 10.000 weitere Menschen wurden auf See abgefangen und nach Libyen zurückgezwungen, wo sie in Gefahr sind. Diese vermeidbaren Todesfälle und dieses unnötige Leid sind auch ein Ergebnis der rücksichtslosen europäischen Abschottungspolitik, betonen die Hilfsorganisationen SOS Mediterranee und Ärzte ohne Grenzen. Der gemeinsam betriebenen Aquarius war vor genau einem Jahr als erstem Schiff ein Hafen zur Ausschiffung von Geretteten verwehrt worden.
„Vor einem Jahr haben wir davor gewarnt, dass die gefährlichen und unmenschlichen Blockaden auf See keinen Präzedenzfall schaffen dürfen. Doch genau das ist passiert“, sagt Sam Turner, Projektleiter von Ärzte ohne Grenzen für Libyen und das Mittelmeer. „Die politische Blockade durch die europäischen Staaten und ihre Unfähigkeit, die Rettung von Menschenleben ganz oben anzustellen, ist heute noch schockierender, da die Kämpfe in Tripolis weiter wüten.“
Allein seit Beginn des Konflikts um die Hauptstadt Tripolis Anfang April haben mehr als 3.800 Menschen versucht, auf unsicheren Booten der Gewalt in Libyen zu entfliehen – obwohl so gut wie keine Rettungsschiffe im Einsatz waren.
„Das Fehlen humanitärer Schiffe im zentralen Mittelmeer sollte den unbegründeten Vorwurf eines angeblichen Pull-Faktors beenden“, sagt Frédéric Penard, Einsatzleiter von SOS Mediterranee. „Tatsächlich nehmen Menschen trotz fehlender Rettungsschiffe aus Mangel an Alternativen und ungeachtet der Risiken die Flucht über das Mittelmeer weiter auf sich. Der einzige Unterschied ist: Das Risiko, bei der Flucht zu sterben, ist jetzt fast viermal höher als im vergangenen Jahr, so die Zahlen der Internationalen Organisation für Migration.“
Seit die Aquarius im vergangenen Jahr daran gehindert wurde, italienische Häfen anzulaufen, ist die Blockade von Schiffen im offenen Meer mit mehr als 18 solchen Vorfällen zum traurigen Normalfall geworden. Insgesamt mussten Schiffe mit geretteten Menschen so 140 Tage lang auf See ausharren, während die Staats- und Regierungschefs der EU darüber diskutierten, wo und wie sie an Land gelassen würden. 2.443 Männer, Frauen und Kinder wurden so tagelang auf dem Meer festgehalten.
Selbst Handels- und sogar Militärschiffe sind durch die Blockade und Kriminalisierung der Seenotrettung immer seltener bereit, auf Notsituationen zu reagieren. Ihnen droht, nach einem Rettungseinsatz längere Zeit auf See blockiert zu werden, oder sie sind gezwungen, gefährdete Menschen unter Verletzung des Völkerrechts nach Libyen zurückzubringen.
Seit Beginn der Kämpfe um Tripolis haben das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR und andere Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen gefordert, Geflüchtete aus Libyen in anderen Ländern in Sicherheit zu bringen. Doch in diesem Jahr hat die libysche Küstenwache mehr als doppelt so viele Geflüchtete nach Libyen zurückgezwungen als von internationalen Organisationen aus dem Land gebracht oder umgesiedelt wurden. Die europäischen Staats- und Regierungschefs unterstützen diese Praxis, obwohl sie genau wissen, dass die Zurückgebrachten in Libyen weiter Ausbeutung, Folter, sexueller Gewalt und willkürlicher Inhaftierung ausgesetzt sind.
SOS Mediterranee und Ärzte ohne Grenzen fordern die EU-Mitgliedstaaten auf:
- dringend ausreichende proaktive Such- und Rettungskapazitäten für das Mittelmeer bereitzustellen, einschließlich kompetenter und reaktionsfähiger Koordinierungsbehörden, um unnötige Todesfälle zu vermeiden
- Strafmaßnahmen gegen NGOs zu beenden, die versuchen, den Mangel an Rettungsschiffen mit ihrer Hilfe auszugleichen
- die politische und materielle Unterstützung für das System der Zwangsrückführungen von Geflüchtete, Asylsuchenden und Migranten nach Libyen zu beenden, wo sie unwillkürlicher und unmenschlicher Haft ausgesetzt sind
- ein nachhaltiges und zuverlässiges System zur Ausschiffung Geretteter an einem sicheren Ort zu schaffen, wo eine menschliche Behandlung, ausreichende Versorgung und der Zugang zu einem Asylverfahren nach internationalen Standards sichergestellt sind.
Am Wochenende vom 9. und 10. Juni 2018 retteten die Teams des Rettungsschiffes Aquarius 230 Menschen aus Seenot. Nach der Übernahme weiterer 400 Überlebender von italienischen Marine- und Küstenwachschiffen verweigerten die italienischen Behörden der Aquarius die Genehmigung, die 630 Menschen, wie im internationalen Seerecht vorgeschrieben, sicher an Land zu bringen. Und das, obwohl die Rettung und die Übernahme von der italienischen Seenotrettungsleitstelle (MRCC) eingeleitet und koordiniert wurde. Am 11. Juni 2018 bot die spanische Regierung der Aquarius die Einfahrt in den Hafen von Valencia an. Erst nach einer Woche trafen die Aquarius sowie italienische Küstenwach- und Marineschiffe, die den Transport eines großen Teils der Geretteten übernommen hatten, in Valencia ein, wo alle 630 Menschen endlich sicher an Land gehen konnten.