Griechenland: Rechenschaft für Schiffsunglück gefordert
Berlin/Athen, 30. Juni 2023. Nach dem schweren Schiffsunglück vor der griechischen Küste fordert Ärzte ohne Grenzen die Übernahme von Verantwortung für den tragischen Tod von bis zu 500 Menschen und kritisiert die Migrationspolitik der Europäischen Union.
„Der Tod der Menschen ist eine direkte Folge der Abschreckungspolitik der EU, die Menschen dazu zwingt, lebensgefährliche Routen zu nehmen. Anstatt Geflüchteten eine sichere Überfahrt zu gewähren, bringt diese Politik Menschen um. Der fehlende politische Wille, Kapazitäten für die Seenotrettung bereitzustellen, hat zu dem tödlichsten Schiffsunglück im Mittelmeer seit 2015 beigetragen”, sagt Duccio Staderini, Landeskoordinator von Ärzte ohne Grenzen in Griechenland.
Ein Team von Ärzte ohne Grenzen hat in dem Aufnahmezentrum Malakasa 87 Überlebende des Schiffsunglücks versorgt. Die Menschen hatten unter anderem Verbrennungen und Verletzungen durch das Meerwasser und die Sonneneinstrahlung erlitten. Auch behandelten Mitarbeitende der Organisation Patient*innen mit hypoglykämischen Schocks infolge von Nahrungsmangel und leisteten psychologische Unterstützung.
„Die Überlebenden berichteten unseren Teams, wie sie um Hilfe riefen, stundenlang warteten und schließlich mit ansehen mussten, wie ihre Freunde ertranken“, sagt die medizinische Koordinatorin von Ärzte ohne Grenzen, Elise Loyens. „Sie erzählten uns auch von den Schrecken, die sie in Libyen erlebt haben: von Folter, Schlägen und dem Festhalten in der Wüste ohne ausreichend Nahrung und Wasser.”
Die Überlebenden berichteten außerdem, dass rund 300 Menschen aus Pakistan auf dem Boot gewesen sind. Nach aktuellem Kenntnisstand haben nur zwölf überlebt. Auf dem unteren Deck waren zudem viele Frauen und Kinder an Bord. Lediglich acht Kinder konnten lebend geborgen werden.
Ein Überlebender äußerte sich über den Moment des Unglücks: „Als das Schiff kenterte, habe ich mich mit aller Kraft an einem Geländer festgehalten. Ich habe gesehen, wie Menschen hin und her geschleudert wurden, von Bootsteilen zerquetscht wurden und in die See gestürzt sind. Tag und Nacht höre ich die Schreie und das Geräusch ihrer Kehlen, als sie ertranken.”
Die Überlebenden des Schiffsunglücks befinden sich auf dem Weg der Besserung und versuchen, die Tragödie zu verarbeiten und ihr Trauma zu bewältigen. Gleichzeitig erhalten und beantworten sie Nachrichten von verzweifelten Familien, die herausfinden wollen, was mit ihren Angehörigen geschehen ist.
Auch wenn das Schiffsunglück vom 14. Juni der tödlichste Vorfall dieser Art im Mittelmeer in den vergangenen Jahren war, werden Teams von Ärzte ohne Grenzen in Griechenland regelmäßig gerufen, um medizinische Hilfe für Menschen zu leisten, die eine gefährliche Überfahrt überlebt haben.
Ärzte ohne Grenzen appelliert an die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten, eine transparente und unabhängige Untersuchung zu gewährleisten und zudem die Mechanismen zur Rechenschaftspflicht zu verstärken. Darüber hinaus ist ein grundlegender Politikwechsel dringend erforderlich, bei dem die Rettung von Menschenleben an erster Stelle steht. Das umschließt auch die Einrichtung eines proaktiven, staatlich geleiteten Systems zur Rettung von Menschen in See.