Ukraine: Großer Bedarf an psychologischer Unterstützung
Der Krieg in der Ukraine hat verheerende Auswirkungen auf die mentale Gesundheit der Menschen. Der Mangel an Psycholog*innen und die anhaltenden Kämpfe erschweren jedoch den Zugang zur Hilfe. Ärzte ohne Grenzen unterstützt die Bevölkerung an zahlreichen Orten in der Ukraine mit psychologischer Erster Hilfe, psychosozialer Beratung und umfassender Betreuung - der Bedarf ist enorm.
„Wir versteckten uns in Kellern, als sie mit Panzern durch das Dorf fuhren“, erzählt Anatoliy Andriyevsky, 74, aus dem Dorf Myrolyubivka in der Region Cherson. „Du legst dich hin und weißt nicht, was am Morgen passieren wird. Du weißt nicht, ob du wieder aufwachen wirst oder nicht. Es ist gut, wenn du mit jemandem reden kannst, aber ich war allein.“ Andriyevsky begann über Hilfe nachzudenken. Obwohl die psychosoziale Beratung von Ärzte ohne Grenzen für jede*n zugänglich ist, nutzen vor allem ältere Frauen das Angebot.
„Auch Männer fühlen sich machtlos und hilflos, und das wirkt sich natürlich auf ihre mentale Gesundheit aus", erklärt Tetiana Baranets, Psychologin von Ärzte ohne Grenzen.
Der Bedarf ist im gesamten Land enorm, allein in der ersten Jahreshälfte 2023 haben Psycholog*innen von Ärzte ohne Grenzen mehr als 8000 Beratungen in sieben Regionen durchgeführt. Nahe der Front und in zurückeroberten Gebieten erreichen mobile Teams die Menschen, die monatelange Kämpfe und Gewalt erlebt haben. Weiter von der Front entfernt, etwa in Kropyvnytskyi, versorgt die internationale Nothilfeorganisation vertriebene Familien, überwiegend Frauen mit Kindern, die mit Traumata und Angstzuständen kämpfen. „Wir arbeiten mit den Kindern auf Basis ihrer Bedürfnisse: Wir spielen, malen, helfen ihnen, Ängste im Zusammenhang mit dem Erlebten zu überwinden", erklärt Psychologin Svitlana Alekseenko. Sie vermissen ihr früheres Leben, ihr Zuhause, ihre Freunde, ihre Schulklasse.
Eine der größten Herausforderungen bei der Deckung des Bedarfs ist der Mangel an Psycholog*innen und Berater*innen für psychosoziale Gesundheit. Ein weiteres Hindernis ist die Stigmatisierung und die Selbststigmatisierung, die mit der Inanspruchnahme psychologischer Unterstützung verbunden ist. Zugleich gefährden weiterhin Raketenangriffe im gesamten Land das Leben der Zivilbevölkerung.
„Ich habe immer noch Angst, ich kann nachts nicht schlafen“, sagt Ljudmila Diomina, die in Saporischschja lebt. Im März 2023 schlug eine russische Rakete in der Nähe ihres Hauses ein. „Wo soll ich hingehen, ich lebe hier seit 70 Jahren, das ist mein Zuhause, ich gehe nicht weg." Nach einem Angriff wie diesem leisten Teams von Ärzte ohne Grenzen psychologische Ersthilfe. „Das Wichtigste ist zuerst, dass die Menschen ansprechbar werden, dich sehen, hören und verstehen, wo sie sind“, sagt Psychologin Inna Potapenko.
Viele Menschen zeigen Symptome von Angst, Panik und Depression. Zudem verarbeiten sie zunehmend Trauer und Verlust. „Als Menschen sind wir nicht nur durch unsere negativen Erfahrungen definiert” erklärt Mariyana Kviatkovska, Psychologin von Ärzte ohne Grenzen. „Betroffene leben aber oft nur noch in ihren traumatischen Erinnerungen. Das Leben wird für sie in ‘vorher’ und ‘nachher’ aufgeteilt, und sie fühlen sich in diesem Vakuum gefangen.” Ohne rechtzeitige und angemessene psychologische Unterstützung können sich langfristige Probleme entwickeln. Aufgrund des Mangels an Psycholog*innen, der Stigmatisierung und der anhaltenden Kämpfe bleibt die mentale Gesundheit eine zentrale Herausforderung im ukrainischen Gesundheitswesen.