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Entscheidung auf EU-Gelder zu verzichten: Fragen und Antworten

Pressemitteilung: Ärzte ohne Grenzen nimmt kein Geld mehr von EU und Mitgliedsstaaten

Warum wird Ärzte ohne Grenzen künftig keine Gelder mehr von der EU und deren Mitgliedstaaten nehmen? 

Während immer mehr Menschen weltweit auf der Flucht sind, bauen die europäischen Regierungen höhere Zäune und setzen Hunde und Grenzpolizei ein, um Menschen, die Schutz und Hilfe brauchen, vor den Grenzen Europas aufzuhalten. Das ist eine empörende Reaktion eines Kontinentes, der eine klare Verantwortung gegenüber den Schutzsuchenden hat.

Unsere Teams behandeln die physischen und psychischen Wunden der Flüchtenden, die diese aus ihrer Heimat mitbringen, und solche, die den Menschen während ihrer gefährlichen Flucht zugefügt wurden. In den vergangenen zwei Jahren starben fast zehntausend Menschen beim Versuch, Europa über das Mittemeer zu erreichen. Die europäischen Abschreckungsstrategien zwangen sie zu dieser Route (mehr zum Mittelmeereinsatz von Ärzte ohne Grenzen)

 

Was bedeutet die Entscheidung für die medizinischen Programme und die Patienten von Ärzte ohne Grenzen?

Die Entscheidung hat keine Auswirkungen auf unsere Programme und Patienten. Wir werden niemanden wegschicken müssen, weil nun das Geld für seine Behandlung fehlt. Die EU-Gelder machen einen kleinen Teil unseres Gesamtbudgets aus. 92 Prozent der Finanzierung des internationalen Netzwerkes von Ärzte ohne Grenzen verdanken wir unseren 5,7 Millionen privaten Spenderinnen und Spendern weltweit. Wir werden den Ausfall mit finanziellen Reserven kompensieren, die üblicherweise für Notfall-Programme zurückgelegt werden.

Laufende Finanzierungsverträge mit der EU oder Mitgliedsstaaten werden erfüllt bis diese – meist Ende 2016 – auslaufen. Neue Verträge hatten wir bereits seit April 2016 ausgesetzt.

Ärzte ohne Grenzen hält finanzielle Reserven vor, damit wir in Notfällen schnell reagieren können. Wir werden künftig verstärkt um Privatspenden werben, und sind sehr zuversichtlich, dass wir die wegfallenden EU-Mittel ab dem Jahr 2017 so kompensieren.
 

Weshalb sollten Privatspender weiterhin spenden, wenn Ärzte ohne Grenzen auf EU-Gelder verzichtet?

Ärzte ohne Grenzen ist grundsätzlich auf die Unterstützung von Millionen Privatpersonen angewiesen, um dort unabhängige und unparteiliche Hilfe zu leisten, wo diese am dringendsten benötigt wird. Wir hoffen, dass die Menschen unsere Entscheidung nachvollziehen können, uns von einer Politik zu distanzieren, die das Grundrecht von Menschen, Schutz zu suchen, bedroht und viel Leid verursacht. Wir haben bereits viel Zuspruch von Spendern und Spenderinnen für unsere Entscheidung erhalten.

Im Übrigen ist die Entscheidung auf staatliche Fördergelder zu verzichten nicht neu für uns. Schon immer war der Anteil staatlicher Gelder an unseren Einnahmen sehr gering (ca. 3-4 Prozent). Von den USA nehmen wir zum Beispiel seit 2004 kein Geld mehr an. In vielen Konfliktländern, in denen wir Menschen in Not helfen, ist die US-Regierung militärisch aktiv. Geld von einer der Konfliktparteien anzunehmen, untergräbt unsere Unabhängigkeit, die jedoch für die Akzeptanz und Sicherheit unserer Projekte – für Mitarbeiter und Patienten – die Basis ist.

Auch für Projekte in Ländern wie Afghanistan nehmen wir seit einiger Zeit keine Gelder des deutschen Auswärtigen Amtes an, weil die Bundesregierung dort eigene Interessen vertritt.
 

Wie viel Geld erhält Ärzte ohne Grenzen bislang im Jahr von der EU?

Ärzte ohne Grenzen Deutschland erhielt im Jahr 2015 von der Bundesregierung 3,9 Millionen Euro (dies entspricht 3,1 Prozent der Gesamteinnahmen) für Projekte in fünf afrikanischen Ländern. Die Zuwendungen von privaten Spendern betrugen 116,6 Millionen Euro (dies entspricht 93,2 Prozent der Gesamteinnahmen). Für das Jahr 2016 wurden Finanzierungsverträge über 4 Millionen Euro für Projekte in fünf Staaten in Afrika abgeschlossen, die noch erfüllt werden. Neue Mittel wird Ärzte ohne Grenzen beim Auswärtigen Amt nicht beantragen.

Im internationalen Netzwerk von Ärzte ohne Grenzen belief sich 2015 die Summe von Fördermitteln von Institutionen der EU auf 19 Millionen Euro. Die Summe der Fördergelder aus EU-Mitgliedstaaten betrug 37 Millionen Euro. 2016 laufen Finanzierungen durch die EU und zehn europäische Länder: Belgien, Dänemark, Deutschland, Irland, Luxemburg, Niederlande, Norwegen, Spanien, Schweden und Großbritannien.
 

Wie hoch ist das jährliche Budget von Ärzte ohne Grenzen weltweit und woher kommt das Geld?

Das internationale Netzwerk von Ärzte ohne Grenzen konnte 2015 insgesamt 1,28 Milliarden Euro für Nothilfeprojekte weltweit ausgeben. Die Einnahmen lagen bei 1,44 Milliarden Euro. 92 Prozent der Einnahmen stammen von weltweit mehr als 5,7 Millionen Spenderinnen und Spendern. Diese privaten Spenden und Zuwendungen ermöglichen es uns, frei von politischen und wirtschaftlichen Interessen zu agieren und auch in Kriegen und komplexen Konflikten als unabhängig und unparteilich anerkannt zu werden. Die verbliebenen acht Prozent kommen von Regierungen und internationalen Gebern. Ärzte ohne Grenzen verwendet für den Einsatz in der so genannten Flüchtlingskrise keine Gelder von der EU oder von europäischen Mitgliedstaaten.
 

Wie wird Ärzte ohne Grenzen seinen ethischen Standpunkt gegenüber künftigen institutionellen Gebern vertreten?

Ärzte ohne Grenzen nimmt Mittel von Institutionen an, die zu unseren humanitären Werten passen und unseren Prinzipien der Neutralität, Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nicht entgegenstehen.

 

Ärzte ohne Grenzen nimmt nur Spenden von Unternehmen an, die mit unseren humanitären Werten sowie dem Satzungszweck der Organisation vereinbar sind. Wir akzeptieren daher keine Spenden von Firmen der Rüstungs-, Tabak-, Rohstoff-, Erotik-, Glücksspiel- und Alkoholindustrie. Auch Spenden von Pharmaunternehmen nehmen wir nicht an, weil deren marktwirtschaftliche Interessen oft mit dem Bestreben von Ärzte ohne Grenzen in Konflikt stehen, den Patientinnen und Patienten in ärmeren Ländern kostengünstige Medikamente zur Verfügung zu stellen.

 

Was erhofft sich Ärzte ohne Grenzen von dieser Entscheidung?

Während des vergangenen Jahres haben wir die EU immer wieder dazu aufgerufen, statt der verheerenden Abschreckungs- und Abschottungsstrategien solche zum Schutz einzuführen. Wir haben nicht die Erwartung, dass sich die europäische Politik kurzfristig ändert. Tatsächlich finden Verhandlungen statt, das EU-Türkei-Abkommen als Blaupause für ähnliche Abkommen mit 16 weiteren Ländern zu nutzen. Indem wir kein Geld mehr von den europäischen Regierungen und Institutionen annehmen, wollen wir uns deutlich von dieser Politik distanzieren, die Migranten und Flüchtenden Leid zufügt und viele das Leben kostet. Wir werden kein Geld von Regierungen annehmen, deren Politik so viel Schaden anrichtet.

 

Das EU-Türkei-Abkommen sieht aber auch vor, dass die europäischen Regierungen Menschen aus der Türkei aufnehmen. Was sagen Sie dazu?

Pläne für das Resettlement (dauerhafte Neuansiedlung in einem zur Aufnahme bereiten EU-Drittland) bleiben rar und sind an die Bedingung geknüpft, dass gleichzeitig Menschen in die Türkei abgeschoben werden. Die jüngsten bekanntgegebenen Zahlen: Gemäß des EU-Türkei-Abkommens konnten in sechs Monaten gerade 1.614 Syrer in die EU umgesiedelt werden. Als Ziel war im EU-Türkei-Abkommen die Zahl von 71.000 Resettlement-Plätzen genannt worden.

Das Abkommen wird von den europäischen Staaten als Erfolg präsentiert, weil es sein Hauptziel erreicht hat: Menschen aus Europa auszusperren. Es wurde versäumt, etwas gegen die Push-Faktoren für Flucht und Vertreibung zu unternehmen. Und noch immer ist die Grenze zwischen Syrien und der Türkei fast vollständig geschlossen und verhindert, dass Menschen durch Flucht ihr Leben retten können.

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Hilft das Abkommen nicht dabei, Todesfälle im Mittelmeer zu verhindern?

Es sind tatsächlich weniger Menschen in Griechenland angekommen. Doch nach den Erfahrungen, die Ärzte ohne Grenzen in den vergangenen 15 Jahren gemacht hat, ist es nur eine Frage der Zeit, bis verzweifelte Menschen versuchen werden, eine andere, oftmals gefährlichere Route nach Europa zu finden. Wir sind sehr besorgt, dass das Abkommen Menschen, die über Griechenland gekommen wären, zwingen könnte, das zentrale Mittelmeer von Ägypten oder Libyen aus in Richtung Italien zu überqueren. Auf dieser weitaus gefährlicheren Route kamen nach aktuellem Stand 2016 mehr als 4.800 Menschen ums Leben. 2015 waren es knapp 3.800 Menschen.

 

Welche Folgen des EU-Türkei-Abkommen sieht Ärzte ohne Grenzen konkret in Griechenland?

Acht Monate nach Inkrafttreten des EU-Türkei-Abkommens sitzen als direkte Folge mehr als 16.000 Schutzsuchende auf den griechischen Inseln fest. Darunter sind Hunderte unbegleitete Minderjährige und viele Familien, die vor den Kriegen in Syrien, Irak und Afghanistan geflohen sind. Sie werden unter völlig unzureichenden Bedingungen oft monatelang in überfüllten Lagern festgehalten und müssen mit der Abschiebung in die Türkei rechnen.

Im Lager Kara Tepe auf der Insel Lesbos diagnostizieren psychologische Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen einen signifikanten Anstieg von Patienten, die traumatische Stressreaktionen zeigen sowie gravierende psychische Störungen wie schwere Depression, Suizidversuche und Angststörungen (mehr über Migrationsprojekte von Ärzte ohne Grenzen in Europa)

 

Warum hält sich Ärzte ohne Grenzen nicht aus der europäischen Politik heraus und konzentriert sich auf die medizinische Hilfe? 

Wir sind Ärzte, keine Politiker, und wir sprechen über das, was wir in unseren Einsätzen weltweit sehen. Wir haben in den vergangenen Monaten immer wieder auf die dramatischen Folgen der europäischen Migrations- und Asylpolitik aufmerksam gemacht. Gleichzeitig haben wir unsere eigenen Aktivitäten ausgebaut und immer mehr Teams eingesetzt, um auf die von EU-Politikern mitverursachte humanitäre Krise zu reagieren und Menschen in Not zu helfen. Wir können keine Finanzierung durch die EU oder ihre Mitgliedstaaten akzeptieren, wenn wir gleichzeitig die Opfer ihrer Politik behandeln.

 

Unter welchen Umständen würde Ärzte ohne Grenzen einer Unterstützung  wieder zustimmen?

Die europäischen Institutionen und Mitgliedstaaten müssten einen drastischen Richtungswechsel vornehmen: weg von Abschreckung und Ausgrenzung, hin zu Schutz und Unterstützung. Oberste Priorität müssen sichere Fluchtwege nach Europa haben. Vor Konflikt, Gewalt und Verfolgung Fliehende sind auf Schutz und Unterstützung angewiesen. Europa darf das Recht auf Asyl aus seiner Flüchtlingspolitik nicht streichen.

 

16. Dezember 2016