„Nimm mich in den Arm“
Ian Cross arbeitet als Arzt in unserer größten Einrichtung in Cox's Bazar in Bangladesch. Hunderttausende zur Volksgruppe der Rohingya gehörende Menschen sind in das Nachbarland geflohen. Viele von ihnen wurden in Myanmar, wo sie lebten, Opfer von brutaler Gewalt und haben schlimme Verletzungen erlitten. Einige leiden unter Krankheiten, die Folgen ihres Lebens in Armut und ohne medizinische Versorgung sind. Hier erzählt Ian u.a. von einem 10-jährigen Mädchen, das an Tetanus erkrankt ist – eine Begegnung, die ihn sehr bewegt hat.
„Es sah nicht gut aus für das dünne 10-jährige Mädchen, das in einem verdunkelten Raum in unserer Klinik in Kutupalong in der Region Cox's Bazar auf einem Bett lag. Vor elf Tagen war sie gemeinsam mit ihrer Familie aus dem Bundesstaat Rakhine über die Grenze geflohen, nachdem dort Mitte August die Gewalt wieder zugenommen hat. Sie wurde mit einem Wundstarkrampf, starken Rückenschmerzen und steifen Gliedmaßen zu uns gebracht. Ursache dafür war Tetanus, eine Krankheit, die weltweit in den meisten Regionen praktisch verschwunden ist, seit es präventive Impfungen gibt: Nicht aber im Nordwesten Myanmars, der Heimat des Mädchens. Wir hielten das Krankenzimmer der kleinen Patientin ruhig und dunkel, um die Sinneseindrücke gering zu halten, da zu viele Eindrücke einen weiteren schmerzhaften Krampfanfall auslösen könnten.
Ich hob das Kind sanft auf seinen Schoß
Die Verkrampfung in ihren Armen nahm ab, aber ihre Beine waren immer noch angespannt, ihre Zehen versteift. Sie hatte gestern versucht, etwas zu essen, aber sie konnte ihren Mund nicht weit genug öffnen. Sie sah ihren Vater an, der mit überkreuzten Beinen auf der Matratze neben ihr saß. Tränen rannen über seine Wangen. Wir hatten bereits alles uns Mögliche getan, um ihre Genesung zu beschleunigen, doch der Prozess verlief langsam.
Das Mädchen sah ihren Vater an und sagte etwas durch ihre zusammengebissenen Zähne.
„Was hat sie gesagt?", fragte ich meinen Kollegen Dr. Sharma Shila, der aus Bangladesch kommt und die Sprache versteht. „Sie will, dass ihr Vater sie in den Arm nimmt", sagte er.
Der Vater sah verzweifelt aus. Er wollte durch eine Bewegung keinen weiteren schmerzhaften Krampf auslösen. Da hob ich das Kind sanft auf seinen Schoß, damit er sie umarmen konnte.
Bei dem Anblick brach ich fast in Tränen aus
Danach wandte ich mich einem Baby zu, das ebenfalls mit Tetanus im gleichen Zimmer lag. Es war erst einen Monat alt. Die Krankheit hätte verhindert werden können, wenn seine Mutter gegen Tetanus geimpft worden wäre. Leider gibt es in den Rohingya-Gebieten in Myanmar keine Schwangerschaftsvorsorge. Ich beschäftigte mich damit, dem Baby beizubringen, abgepumpte Muttermilch von meinem kleinen Finger zu saugen. Wenn ich es dazu bekommen würde, das zu tun, würde es vielleicht sogar beginnen, an den Brustwarzen der Mutter zu saugen. Schon nach zehn Sekunden hatte das Kind es raus und begann kräftig und rhythmisch zu saugen. Die Mutter, die ihr Baby während drei Wochen mit Hilfe einer Magensonde hatte füttern müssen, freute sich über seine Fortschritte.
Als wir schließlich gehen wollten, warf ich einen Blick auf das kleine Mädchen in den Armen ihres Vaters. Ich war erstaunt: Der Muskelkrampf war bereits so weit zurückgegangen, dass sie ihre Knie um 60 Grad beugen konnte. Ihr Kiefer war nicht mehr zusammengepresst, und sie lächelte ihren Vater an.
Bei dem Anblick brach ich fast in Tränen aus. Für mich war in dem Moment klar: Liebe mag kein Medikament sein, aber die Umarmung des Vaters half dem Mädchen, schneller gesund zu werden."