"Viele Menschen haben Angst, sich nachts schlafen zu legen"
Anfang Juni kam es im Dorf Solhan zu einem traurigen Höhepunkt der Gewalt in Burkina Faso: Bei einem Angriff starben mehr als 130 Menschen und zahlreiche weitere wurden verletzt. Seit Jahren spitzt sich die Lage in Burkina Faso zu. Das in der Sahelzone liegende Land ist u.a. von den Auswirkungen der Klimakrise, Ernährungsunsicherheit und Konflikten zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Gruppen geprägt. Mehr als eine Million Menschen wurden in Folge anhaltender Gewalt vertrieben, die meisten davon innerhalb des Landes. Insbesondere in den letzten Wochen haben unsere Teams einen Anstieg der gewalttätigen Vorfälle in den Regionen Sahel und Est beobachtet.
Unser Landeskoordinator Dr. Youssouf Dembélé beschreibt im Interview die Auswirkungen der anhaltenden Gewalt auf die Menschen und warum internationale Aufmerksamkeit auf die humanitäre Krise unbedingt notwendig ist.
In den letzten Monaten haben wir einen allmählichen Anstieg der Gewalt gegen die Zivilbevölkerung in den Regionen Est, Sahel und Centre-Nord beobachtet. So wurden bei dem Angriff auf das Dorf Solhan in der Nacht des 4. Juni mehr als 130 Menschen getötet und zahlreiche verletzt. Dieser Angriff - der tödlichste in der jüngeren Geschichte Burkina Fasos – erregte zwar weltweit Aufmerksamkeit, doch hält die Unsicherheit in vielen Teilen des Landes an; Kämpfe, Angriffe auf Dörfer, Hinrichtungen und andere gewalttätige Vorfälle gehören zum Alltag.
Wie genau sind die Menschen von der Gewalt betroffen?
Das Schlimmste ist der Verlust von Menschenleben: Jede Woche sterben Menschen. Die Patient*innen kommen meist mit Schusswunden in unseren Gesundheitseinrichtungen an. Oft befinden sie sich in einem sehr kritischen Zustand. Die Menschen leiden unter Misshandlungen verschiedenster Art und fliehen oft aus Angst mit leeren Händen aus ihren Häusern. Zudem beobachten wir eine Zunahme von sexualisierter Gewalt gegen Frauen und Mädchen in den Konfliktgebieten.
Die Gewalt trifft die Menschen auch psychisch sehr hart. Viele haben Angst, sich nachts schlafen zu legen. Manche verlassen ihre Betten und verstecken sich im Busch, aus Angst, angegriffen zu werden. Der Konflikt und die Vertreibung wirken sich direkt auf die Lebensgrundlage der Menschen aus: Viele sind Landwirt*innen oder Hirt*innen, haben nun alles verloren und sind fast gänzlich auf humanitäre Hilfe angewiesen. Ihre Aussichten für die nahe Zukunft sind sehr ungewiss.
Viele Gesundheitszentren sind geschlossen, weil die Mitarbeiter*innen des Gesundheitsministeriums Angst haben, dort zu bleiben. Es gibt nur noch wenige Transportmöglichkeiten zu den Gesundheitseinrichtungen. Unsere nationalen Mitarbeiter*innen, die aus den umliegenden Gemeinden kommen und dazu ausgebildet wurden, Kinder und schwangere Frauen in schwer zugänglichen Gebieten auf häufige Krankheiten zu untersuchen und gefährdete Patient*innen ins Krankenhaus zu überweisen, können aus Angst vor Gewalt selbst oft nicht mehr ihrer Arbeit nachgehen.
Auch der Zugang zu den essentiellsten Ressourcen wie Wasser ist eingeschränkt: Die Ankunft von Vertriebenen in großer Zahl in städtischen Gebieten überlastet das Versorgungssystem. Einheimische wie Vertriebene haben deshalb kaum Zugang zu sauberem Wasser - und das in einer Umgebung, die ohnehin bereits stark von den Folgen des Klimawandels betroffen ist. Zudem sehen wir immer mehr mangelernährte Kinder. Die Ernährungsunsicherheit nimmt zu.
Was tut Ärzte ohne Grenzen, um darauf zu reagieren?
Als medizinische Nothilfeorganisation versuchen wir, uns an die unbeständige Situation anzupassen und umfassende und schnelle Hilfe zu leisten, wo immer sie benötigt wird.
Wir haben verschiedene langfristige medizinische Projekte in Städten und ländlichen Gebieten in den Regionen Sahel, Nord, Centre-Nord, Est und Boucle du Mouhoum. Mobile Teams besuchen Menschen in einigen der schwer erreichbaren oder abgelegenen Gebieten, um ihnen grundlegende medizinische Versorgung anzubieten.
An Orten, an denen viele vertriebene Menschen leben oder täglich neu ankommen, unterstützen wir medizinisch, mit Unterkünften und Wasser- und Sanitärversorgung - u.a. in Markoye, Gorom Gorom und Sebba in der Sahelzone.
Bei Gewaltausbrüchen und Notsituationen unterstützen wir Gesundheitseinrichtungen, die eine hohe Zahl von Verwundeten aufnehmen. Zuletzt haben wir nach dem Angriff auf Solhan, dem Gesundheitspersonal in Dori und Ouagadougou bei der medizinischen und chirurgischen Versorgung von mehr als 20 Schwerverletzten unter die Arme gegriffen.
Was sind Ihre wichtigsten Anliegen für die kommenden Monate?
Da der Konflikt seit Jahren unvermindert anhält, befindet sich das Land in einer Krise, die mit der Zeit wahrscheinlich immer weiter vernachlässigt wird. Dies liegt an logistischen und sicherheitstechnischen Problemen, die die Bereitstellung von Hilfe erschweren, aber auch an den zahlreichen anderen Notfällen, die sich weltweit ereignen.
Obwohl einige andere humanitäre Organisationen bereits in der Region tätig sind, ist noch viel mehr nötig. So muss zum Beispiel die Versorgung der Vertriebenen mit Nahrungsmitteln sichergestellt werden.
Der Bedarf an humanitärer und medizinischer Hilfe ist extrem hoch. Unsere Teams arbeiten in einem sehr anspruchsvollen und unbeständigen Sicherheitsumfeld und es ist von entscheidender Bedeutung, dass sie ungehindert Zugang haben, um die Menschen in Not zeitnah zu erreichen. Egal, wo sie sich befinden.
Die humanitäre Hilfe in Burkina Faso muss dringend aufgestockt werden, um die Menschen in Not rechtzeitig und effektiv zu erreichen, wo auch immer sie sich befinden mögen. Die Zukunft dieser Menschen ist ungewiss. Das Risiko von Krankheiten wie Malaria und Mangelernährung wird sich während der bevorstehenden Regenzeit weiter erhöhen.