Europa grenzt aus: "Ich dachte, als Sudanese finde ich Schutz in Frankreich."
Als der Krieg im Sudan im April 2023 ausbricht, verlässt Ali* seine Heimat, um der Zwangsrekrutierung zu entkommen. Er flieht über Libyen und das Mittelmeer bis nach Frankreich. Die Chancen für Sudanes*innen als Flüchtling anerkannt zu werden stehen nicht schlecht. Doch die Realität ist komplizierter: In Calais, im Norden Frankreichs, versuchen sie in menschenunwürdigen Camps zu überleben, während sie auf Asyl warten.
Die Lebensbedingungen in Calais sind fürchterlich. Innerhalb von 6 Monaten musste ich siebenmal den Ort wechseln, weil die Polizei unsere Zelte entfernt hat. Eines Morgens weckten mich die Befehle der Polizist*innen. Wir sollten den Ort verlassen und alles wegwerfen. Doch ich blieb, da ich nicht wusste wohin... Sie zielten mit Tränengas auf mich."
- Ali, junger sudanesischer Geflüchteter in Calais, Frankreich
Als Ali in Calais ankommt, ist er einer von mehr als 1.000 Menschen, die im Camp leben: Lebensmittel und Wasser reichen kaum. Etwa 60 Prozent von ihnen sind Sudanes*innen, die wie Ali nach dem Ausbruch des Krieges zwischen den sudanesischen Streitkräften und den Rapid Support Forces aus dem Sudan geflohen sind. Nach internationalem Recht können sie in europäischen Ländern als Flüchtling Schutz ersuchen.
Deutschland, Frankreich, Belgien und Großbritannien haben angesichts der sich verschlechternden Sicherheits- und humanitären Lage im Sudan kürzlich formale Erleichterungen eingeführt, um sudanesischen Asylbewerber*innen schnelleren Schutz zu ermöglichen. Doch die Erfahrungen der Geflüchteten spiegeln eine völlig andere Realität wider: Es herrscht Gewalt, Unsicherheit und Ungewissheit.
Ich habe erwartet, dass ich als Sudanese in Frankreich Schutz bekomme. Ich habe gehofft, dass das Asylverfahren einfacher sei. Stattdessen habe ich das Gefühl, eine Festung bestiegen zu haben”, fährt Ali fort. “All meine Freunde, die einen Asylantrag gestellt haben, leben immer noch in Zelten im Camp.”
Die Situation von Ali und Hunderten anderen Migrant*innen ist das Ergebnis einer verfehlten EU-Politik, die Schutzsuchende bewusst vernachlässigt und ausgrenzt, um sie und andere abzuschrecken. Ihnen wird jede Möglichkeit genommen, anzukommen, physisch und psychisch zu heilen und in Würde zu leben.
Die Kontrolle und Abwehr von Migration wird zum Teil an Drittländer übertragen, und zwar in Form von finanzieller und materieller Unterstützung oder polizeilicher und militärischer Zusammenarbeit. Dieser Ansatz hat in den vergangenen Jahren an Europas Grenzen und weit darüber hinaus zu einer verheerenden humanitären Krise geführt, mit deutlichem Anstieg der Todesfälle und Verzweiflung und Elend unter Menschen auf der Flucht.
Vor dem Krieg im Sudan fliehen
Mittlerweile sind mehr als zehn Millionen Sudanes*innen vertrieben. Sieben Millionen haben innerhalb des Landes Zuflucht gefunden, etwa 700.000 im Südsudan, 600.000 im Tschad und 500.000 in Ägypten.
Neben Unsicherheit und Gewalt bedroht Mangelernährung das Leben im Sudan. In dem riesigen sudanesischen Camp Zamzam in Nord-Darfur haben wir Anfang 2024 unter den rund 300.000 Vertriebenen alarmierende Sterblichkeits- und Mangelernährungsraten gemessen, die weit über den Notfallgrenzwerten liegen. So ist ein Drittel der Kinder im Camp mangelernährt. Man schätzt, dass alle zwei Stunden ein Kind stirbt.
Der junge Sudanese Mustafa*, der mittlerweile auch in Calais lebt, flieht im Juni 2023 vor einem ethnischen Massaker in seiner Heimatstadt El Geneina im sudanesischen Bundesstaat West-Darfur.
Der Tag, an dem ich El Geneina verlassen habe, war wahrscheinlich der schlimmste Tag meines Lebens. Wenn man mit eigenen Augen Menschen, Freund*innen und geliebte Menschen auf der Straße liegen sieht, tot oder verletzt, und man ihnen nicht helfen kann, ohne das eigene Leben zu riskieren, bleibt einem nur Weinen."
Seitdem lebt seine Familie in Adré, im Nachbarland Tschad, etwa 30 Kilometer hinter der sudanesischen Grenze. Doch Mustafa, der eigentlich Lehrer werden wollte, bleibt nur einen Monat. Denn der Tschad ist ein Land ohne wirtschaftliche Zukunft für ihn. Mustafa* will arbeiten, Geld verdienen und sein Studium beenden.
Die bestehenden Camps im Tschad sind überfüllt, mehr als 100.000 Menschen leben in der Grenzstadt Adré mehr oder weniger auf der Straße. Teams von Ärzte ohne Grenzen stellen hier medizinische Versorgung und Wasser bereit. Mit dem massiven Anstieg der Zahl der Geflüchteten steigt auch kontinuierlich der Bedarf an Gesundheitsversorgung und Nahrungsmittelhilfe.
Angesichts dieser Umstände ziehen Menschen weiter und setzen ihren Weg auf der Suche nach Schutz fort.
Ich habe gehört, dass die Europäische Union jetzt die Sudanes*innen wegen des Krieges aufnimmt. Aber wie soll ich dorthin kommen? Ich habe nichts, nicht einmal ein sudanesisches Pfund.”
-Muntasir*, ein sudanesischer Geflüchteter im Camp Goz Beïda, Tschad
Das Hochkommissariat für Flüchtlinge der Vereinten Nationen (UNHCR) bietet sudanesischen Flüchtlingen aus diesen Camps die Möglichkeit, sich für ein Neuansiedlungsprogramm in einem Drittland zu registrieren. Die Zahl der Plätze in den europäischen und nordamerikanischen Ländern ist jedoch äußerst gering. "Einige Menschen haben 2003 einen Antrag auf Neuansiedlung gestellt. Doch von hier fortgekommen sind sie bis heute nicht. Legale Einwanderung ist sehr kompliziert", erklärt Khalil*, ein Sudanese in Tina, Tschad.
Libyen und Tunesien: Unterhändler Europas
Ähnlich sieht es weiter nördlich in Libyen aus. Dort gelingt es im Jahr 2023 nur 1.100 Asylsuchenden mit Unterstützung des UNHCR legal das Land zu verlassen. Ali geht, wie mehr als 40.000 Sudanes*innen seit Beginn des Kriegs, auch nach Libyen, einem historischen Einwanderungsziel für Menschen aus den Nachbarländern, die auf der Suche nach Arbeit sind.
Ich ging mit meinem Onkel nach Libyen. Wir hatten vor, dort zu arbeiten und zu leben. Es ist ein reiches Land und wir hatten gute Chancen, einen guten Job zu finden. Nach Europa zu gehen, war nicht mein ursprünglicher Plan. Aber das Leben in Libyen ist für uns so schwierig. Als ich eine Arbeit fand, wurde ich nicht bezahlt. Ich weiß, dass Sudanes*innen entführt und gefoltert werden. Die Entführer rufen die im Sudan verbliebenen Familien an und verlangen Lösegeld... Also habe ich mich letztendlich entschieden, nach Europa zu gehen."
- Ali, junger sudanesischer Geflüchteter in Calais, Frankreich
Im April 2023 veröffentlichen die Vereinten Nationen einen Bericht, in dem sie von "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" gegen Migrant*innen in Libyen berichten und Praktiken wie willkürliche Inhaftierung, Folter, Vergewaltigung und Sklaverei, insbesondere sexualisierte Sklaverei, dokumentieren.
Trotzdem hat die Europäische Union Libyen seit 2017 zu einem ihrer bevorzugten Verbündeten im Kampf gegen die Migration gemacht. Hunderte Millionen Euro wurden an die libyschen Behörden gezahlt, insbesondere zur Unterstützung der Küstenwache, die Migrant*innen auf See abfängt und nach Libyen zurückbringt, wo sie in Haftanstalten festgehalten werden. Im Jahr 2023 wurden auf diese Weise 17.025 Menschen auf See abgefangen und nach Libyen zurückgeschickt. Im selben Jahr starben oder verschwanden mehr als 2.500 Menschen bei dem Versuch, das zentrale Mittelmeer zu überqueren, die höchste Zahl seit 2017.
Ismails Vater wurde in Libyen inhaftiert, gefoltert und starb dort. Auch der junge Mann hatte sich dorthin begeben, um zu versuchen, nach Europa zu gelangen.
Mein Leben war wie das einer Gazelle, die vor einem Löwen flieht. Ich habe versucht, von Libyen aus nach Europa zu gelangen und bin gescheitert. Auch von Marokko aus scheiterte ich. Dann habe ich herausgefunden, dass viele Migrant*innen versuchen, über Tunesien zu kommen."
- Ismaïl*
Seit 2023 ist Tunesien aufgrund der extremen Gewalt in Libyen und der billigeren Überfahrt zum Hauptabfahrtsland für Boote nach Italien geworden. Nach Angaben des UNHCR gingen 84 Prozent der Sudanes*innen, die 2023 über das Mittelmeer nach Italien kamen, in Tunesien an Bord. 2022 waren noch 98 Prozent von der libyschen Küste aus gestartet.
2023 schloss die Europäische Union auch mit Tunesien ein neues Abkommen: Im Wert von über eine Milliarde US-Dollar, von denen mindestens 100 Millionen in Grenzsicherung und Migrationsabwehr fließen. Es soll verhindert werden, dass Migrant*innen das Land verlassen.
Am Ende des Wegs: Tödliche Politik der Europäischen Union
Seit Jahren warnen wir vor den gesundheitlichen Folgen der europäischen Migrationspolitik. Mehrere Gürtel der Gewalt ziehen sich heute um Europa. Menschen wie Ali und Mustafa sollen abgehalten werden, Schutz in Europa zu finden. Diese Gewalt zwingt Menschen, längere und gefährlichere Routen zu nehmen. Tausende Todesfälle sind Ergebnis all dessen – in der Sahara, auf dem Mittelmeer, den Alpen oder auf dem Ärmelkanal. Gleichzeitig wird der Zugang zum Schutz immer weiter eingeschränkt.
In Europa angekommen stehen den Menschen oft langwierige und komplizierte Asylverfahren bevor. Die Dublin-III-Verordnung der EU zwingt Asylsuchende, ihren Antrag auf Schutz in dem Land zu stellen, über das sie in die Europäische Union eingereist sind, ungeachtet ihrer Wahl oder ihrer familiären, sprachlichen und kulturellen Bindungen.
In Frankreich gibt es keine Hilfe für Menschen wie mich. Es ist kompliziert, Papiere und Arbeit zu bekommen", sagt Ali. "Ich bin mir sicher, dass es besser ist, in Großbritannien Asyl zu beantragen, dort bekommt man Hilfe und findet leichter einen Job ... Das haben mir auch meine Freunde gesagt. Egal, welche Hindernisse, Gesetze oder die Polizei, ich werde weiterhin nach einem sicheren Ort suchen, an dem ich eine Arbeit und ein Bett zum Schlafen habe."
In Großbritannien bieten wir und Ärzte der Welt seit 2023 medizinische Konsultationen in der Nähe eines Zentrums für Asylsuchende in Wethersfield an, nordöstlich von London. Nach sechsmonatiger Tätigkeit stellten wir fest, dass 74 Prozent der Menschen, denen wir begegneten, schwer psychisch erkrankt sind. 41 Prozent von ihnen hatten sich selbst verletzt, einen Suizidversuch unternommen oder Suizidgedanken.
Die europäischen Länder müssen die Externalisierung unserer Grenzen beenden. Sie müssen die Programme für die Neuansiedlung von Geflüchteten über den UNHCR-Mechanismus sowie andere ergänzende Schutzwege, zu denen die Familienzusammenführung sowie Arbeits- und Studienvisa gehören, ausbauen. Es ist scheinheilig, wenn man vorgibt, die Bedingungen für den Zugang zu Asyl im eigenen Land zu erleichtern, aber den Zugang über Tausende von Kilometern entfernt verhindert."
- Claudia Lodesani, Leiterin unserer Projekte in Frankreich und Libyen