Griechenlandbesuch Kanzlerin Merkel: Offener Brief zur Situation im Lager Moria
Vor dem Griechenlandbesuch von Angela Merkel am 10. Januar 2019 fordert die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen die Bundeskanzlerin auf, auch den EU-Hotspot Moria auf Lesbos zu besuchen. Tausende Geflüchtete sitzen in den EU-Hotspots auf den griechischen Inseln fest. Das für 3.100 Personen ausgelegte Lager Moria ist derzeit mit 5.700 Menschen überfüllt, darunter 1.800 Kinder. Ärzte ohne Grenzen fordert, alle Kinder und verletzlichen Personen umgehend in angemessene Unterkünfte auf dem Festland und in anderen EU-Staaten zu evakuieren. Die medizinische Leiterin für die Projekte von Ärzte ohne Grenzen auf Lesbos, Cordula Häffner, richtet einen eindringlichen Appell an Kanzlerin Merkel:
„Frau Merkel, kommen Sie nach Lesbos“ – Krankenschwester von Ärzte ohne Grenzen schreibt vor Griechenland-Besuch an die Bundeskanzlerin
Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel,
aufgrund Ihres geplanten Besuchs in Griechenland möchte ich mich an Sie als Regierungschefin meines Landes wenden. Mein Name ist Cordula Häffner, ich bin die medizinische Leiterin der Projekte von Ärzte ohne Grenzen auf Lesbos.
Ich arbeite seit drei Monaten in Lesbos. Unser Team leistet eine medizinische Grundversorgung für Kinder und behandelt schwere psychische Problemen von Flüchtlingen und Migranten. Ich bin zutiefst betroffen über die inakzeptablen und unmenschlichen Bedingungen, unter denen die Menschen auf unbestimmte Zeit im Lager Moria festgehalten werden. Nachdem ich in verschiedenen Einsätzen von Ärzte ohne Grenzen auf der ganzen Welt (Haiti, Zentralafrikanische Republik und Libyen) gearbeitet hatte, kam ich nach Griechenland und erwartete, dass die Situation in Europa weniger schwerwiegend sei. Aber ich bin schockiert über das Ausmaß des menschlichen Leidens hier.
Können Sie sich vorstellen, wie ein neugeborenes Baby bei winterlichen Temperaturen in einem Zelt lebt?
Können Sie sich vorstellen, dass Menschen bei diesem Wetter in Flip-Flops herumlaufen?
Können Sie sich einen 14-jährigen unbegleiteten Jungen vorstellen, der nicht in der Lage ist, zu sprechen, wegen all der Schrecken, denen er in seinem kurzen Leben ausgesetzt war und im Lager Moria weiter ausgesetzt ist?
Können Sie sich vorstellen, wie Menschen jeden Tag drei Stunden lang in dieser Kälte für Frühstück, Mittag- und Abendessen Schlange stehen müssen?
Können Sie sich vorstellen, wie es ist, ohne Hoffnung leben zu müssen, ohne etwas über Ihre eigene Zukunft zu wissen?
Dies sind nur einige Beispiele für die Realität, mit denen die Menschen tagtäglich konfrontiert sind. Während Sie nach Griechenland reisen, leben 5.700 Menschen in Moria, darunter 1.800 gefährdete Kinder, die in völligem Elend leben. Etwa 2.700 Menschen müssen bei winterlichen Temperaturen und unter unannehmbaren Lebensbedingungen in Zelten übernachten.
Täglich sieht unser medizinisches Team mehr als 100 Kinder, zum Beispiel mit Atemwegsinfektionen, Durchfall, Hautkrankheiten und psychischen Problemen - viele dieser Beschwerden wurden durch die schrecklichen Lebensbedingungen verursacht und werden durch diese noch verschlimmert.
Wir sind nur eine medizinische Hilfsorganisation, die versucht, ihren Beitrag zu leisten, wo immer es möglich ist. Ist Europa wirklich der Meinung, dass all diese Probleme von Nichtregierungsorganisationen gelöst werden können und sollten?
Als europäische Bürgerin empfinde ich Verantwortungsbewusstsein dafür, dass diese Flüchtlinge und Migranten mit Würde und Respekt behandelt werden und die Rechte erhalten, auf die sie Anspruch haben. Die Situation, die ich in Griechenland sehe, beschämt mich. Die europäischen Länder, einschließlich meines eigenen, haben Menschen in Not den Rücken zugekehrt.
Ich möchte Sie einladen, die griechischen Inseln zu besuchen, nach Lesbos, Samos oder Chios zu kommen, um selbst zu sehen und persönlich zu erfahren, unter welchen Bedingungen die Menschen unter Obhut der EU leben.
Sehr gerne stehe ich für ein Gespräch zur Verfügung.
Hochachtungsvoll,
Cordula Häffner