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Hilfe an Orten, wo es bisher keine gibt

Content-Warnung: In diesem Beitrag wird sexualisierte Gewalt thematisiert.

"Als ich 12 Jahre alt war, hat mich mein Großvater zweifach missbraucht", erzählt María* bei ihrem Besuch im Gesundheitszentrum in La Bueso, einem Dorf im Norden von Honduras.“ Mit 14 beschloss ich, von zu Hause wegzugehen, mit 17 hatte ich bereits zwei Kinder."

Im vergangenen Jahr wurde María nach einer Vergewaltigung schwanger. “Ich bin danach nicht zum Arzt gegangen und war dann überrascht, als ich erfuhr, dass ich schwanger bin,” berichtet die Dreiunddreißigjährige. “Ich musste zu Hause entbinden, mit Hilfe einer Nachbarin, die Krankenpflegerin ist. Dort, wo ich wohne, gibt es kein Gesundheitszentrum und ich habe kein Geld, um eine längere Fahrt zu organisieren, geschweige denn in eine Privatklinik zu gehen.” 

Wenn Missbrauch das Leben prägt 

Sexualisierte Gewalt trifft in Honduras Frauen und Mädchen, die ohnehin kaum Zugang zu sexueller und reproduktiver Gesundheitsversorgung haben. Seit mehreren Jahren unterstützen wir Menschen an Orten, an denen sexualisierte Gewalt besonders häufig vorkommt – doch der Bedarf übersteigt unsere Möglichkeiten bei weitem. 

Marías Erfahrungen decken sich mit denen vieler anderer Frauen. In den vergangenen zehn Jahren haben unsere Teams in Honduras rund 3.500 Menschen behandelt, die sexualisierte oder geschlechtsspezifische Gewalt überlebt haben – viele in ihrer Kindheit und Jugend. Doch oft nehmen Betroffene keine medizinische Versorgung in Anspruch. Grund dafür ist sowohl die Stigmatisierung, die sie in ihren Gemeinden erleben, als auch die Unkenntnis darüber, welche Hilfsangebote überhaupt zur Verfügung stehen. 

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Die mobilen Kliniken von Ärzte ohne Grenzen bieten Frauen im gebärfähigen Alter Gesundheitsfürsorge an, einschließlich prä- und postnataler Überwachung, Familienplanungsmethoden, Zytologie und andere Maßnahmen zur sexuellen und reproduktiven Gesundheit.
Die mobilen Kliniken von Ärzte ohne Grenzen bieten Frauen im gebärfähigen Alter Gesundheitsfürsorge an, einschließlich prä- und postnataler Überwachung, Familienplanungsmethoden, Zytologie und andere Maßnahmen zur sexuellen und reproduktiven Gesundheit.
© MSF/Laura Aceituno

Die Behandlung ist zeitkritisch 

Dabei ist eine schnelle medizinische Versorgung der Überlebenden wichtig: innerhalb der ersten 72 Stunden kann z.B. der Infektion mit Geschlechtskrankheiten vorgebeugt werden – selbst die Übertragung von HIV mit einer Postexpositionsprophylaxe verhindert werden.  

Auch Notfallverhütungsmittel müssen möglichst bald, mindestens aber innerhalb von fünf Tagen verabreicht werden, um wirksam zu sein. Diese sind in Honduras jedoch kriminalisiert, was ihre Verfügbarkeit zusätzlich einschränkt. Ebenfalls wichtig ist eine frühzeitige psychologische Betreuung der Überlebenden.  

Familienplanung für ein selbstbestimmtes Leben 

Während María in unserem Gesundheitszentrum auf Registrierungsunterlagen für ihre fünf Monate alte Tochter wart, kommt sie mit einer unserer Pädagog*innen über unsere Angebote ins Gespräch. María erzählte von ihren finanziellen Sorgen und der Schwierigkeit, eine Familie zu ernähren. Als sie erfährt, dass wir auch Verhütungsmethoden anbieten, ist sie erleichtert und sagt: “In der Vergangenheit musste ich viel durchmachen. Ich habe Geld für sexuelle Dienstleistungen bekommen. Jetzt habe ich viele Kinder und es beruhigt mich sehr zu wissen, dass ich eine kostenlose Methode zur Familienplanung anwenden kann.”  

Vergangenheit, die die Gegenwart prägt 

Während des Gesprächs erzählte María auch von der starken emotionalen Belastung, die sie aus ihrer Kindheit mitbringt und wie sich diese auf die Beziehung zu ihren eigenen Kindern auswirkt.  

“Ich brauche wirklich psychologische Hilfe. Aber ich habe kein Geld, um eine Psycholog*in zu bezahlen”, sagt die Mutter von sieben Kindern. “Ich verdiene in meinem Job als Köchin 1.400 Lempiras im Monat (ca. 56 Euro) und das meiste davon brauche ich, um mein Baby zu ernähren. Ich weiß, dass ich Unterstützung brauche, weil ich viele Dinge aus der Vergangenheit mit mir herumschleppe.”  

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Die Teams von Ärzte ohne Grenzen in Choloma sensibilisieren für die bestehenden Defizite im Bereich der sexualisierten und reproduktiven Gesundheit in den betreffenden Gemeinden, insbesondere bei Teenagern.
Die Teams von Ärzte ohne Grenzen in Choloma sensibilisieren für die bestehenden Defizite im Bereich der sexualisierten und reproduktiven Gesundheit in den betreffenden Gemeinden, insbesondere bei Teenagern.
© MSF/Laura Aceituno


Es braucht umfassende Maßnahmen gegen das strukturelle Problem 

Obwohl Überlebende sexualisierter Gewalt einen enormen Bedarf an medizinischer und psychologischer Hilfe haben, gibt es in Honduras kaum Zugang zu sexueller und reproduktiver Gesundheitsversorgung. Es mangelt insgesamt sowohl an Verhütungsmitteln als auch an Aufklärungsangeboten für Frauen und Jugendliche. Die Schwangerschaftsrate bei unter 18-Jährigen ist hoch, im März 2022 lag sie bei 23 Prozent.  

Gerade für junge Mütter besteht während der Schwangerschaft ein erhöhtes Risiko für Komplikationen. Auch mit sexuell übertragbaren Krankheiten sind junge Menschen in Honduras in besonderem Ausmaß konfrontiert. Die politische Lage verschärft die Situation: Es bedarf dringend einer Verabschiedung eines Protokolls für die umfassende Betreuung von Überlebenden sexualisierter Gewalt inklusive der Aufhebung des Verbots von Notfallverhütungsmitteln. 

Wir haben unsere Aktivitäten ausgeweitet 

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Honduras: Projekte zur reproduktiven Gesundheit
© MSF

Robert López, Psychologe und Pädagoge unseres Teams vor Ort in Choloma, im nördlichen Bezirk Cortés, sagt: “Angesichts des Bedarfs ist es dringend erforderlich, dass die nationalen Behörden und Organisationen vor Ort ihre Bemühungen verstärken und das Angebot an Dienstleistungen für sexuelle und reproduktive Gesundheit in Honduras ausbauen.” Unsere Teams gehen an Orte, an denen es weder Ärzt*innen oder Krankenpfleger*innen noch Aufklärung gibt. Aber wir können nicht alle Menschen versorgen, die Hilfe bräuchten. 

Nachdem wir bereits mehrere Jahre in Choloma aktiv waren, haben wir Anfang des Jahres unsere Aktivitäten auf die benachbarte Großstadt San Pedro Sula ausgeweitet. Wir unterstützen dort mit medizinischer und psychologischer Betreuung sowie Aufklärungsangeboten u.a. in Schulen. Unsere Teams besucht zudem verschiedene Gemeinden, um prä- und postnatale Beratungen, Verhütungsmittel und Gesundheitsförderung anzubieten.