Sexualisierte und häusliche Gewalt während des Covid-19-Lockdowns
Zu Beginn der Covid-19-Pandemie ordneten viele Länder - darunter Indien - einen strikten Lockdown an, um eine Ausbreitung des Coronavirus zu verhindern. Die Eindämmung der Pandemie hatte oberste Priorität - und essentielle Gesundheitsdienste wie die zu sexueller und reproduktiver Gesundheitsversorgung, sichere Schwangerschaftsabbrüche und Behandlungen nach sexualisierten Übergriffen wurden vorerst hintenangestellt. Das hatte weltweit für viele Überlebende sexualisierter Gewalt tragische Konsequenzen: Menschen, die mit den Tätern zusammenlebten, waren plötzlich gefangen – ohne Zugang zu medizinischer Behandlung und ohne die Chance, ihnen zu entkommen. In der Hauptstadt von Indien, Neu-Delhi, unterstützen unsere Teams daher die Umeed-Ki-Karan-Klinik und betreuen Überlebende sexualisierter Gewalt.
Mehr zur aktuellen Situation in Indien und unserer Hilfe in der Covid-19-Pandemie erfahren Sie hier.
Vor Ausbruch des Coronavirus waren Gesundheitsberater*innen wie Seema Rani und Nichtregierungsorganisationen in den Gemeinden im Bezirk Jahangirpuri in Neu-Dheli unterwegs um Aufklärungsarbeit, u.a. zu häuslicher und sexualisierter Gewalt, zu leisten. Doch als sich das Virus zunehmend ausbreitete, wurden sie von der Nationalen Gesundheitsmission dazu angehalten, ihren gesamten Fokus auf Aktivitäten rund um Covid-19 zu legen. „Als das passiert ist, brach Chaos in der Gemeinde aus”, berichtet Seema.
„Betroffene Frauen konnten die Gesundheitsberater*innen nicht mehr erreichen und erhielten damit auch keine Informationen zum Thema Familienplanung, die wir ihnen normalerweise geben. Während des Lockdowns ist die Zahl an ungewollten Schwangerschaften in der Gemeinde extrem gestiegen“, berichtet sie.
Viele Betroffene leben mit den Tätern unter einem Dach
In der von uns unterstützten Umeed Ki-Kiran-Klinik (UKK) im Bezirk Jahangirpuri versuchten die Mitarbeiter*innen, bereits registrierte Patient*innen telefonisch zu erreichen. Doch die Betroffenen verfügen oftmals nicht über eigenen Telefone – sie teilen sich eines mit dem Rest der Familie – und verpassten so häufig Anrufe der Klinik. Zudem war es schwierig, offen über ihre Situation zu sprechen, während sie zu Hause mit ihren Familienmitgliedern eingesperrt waren. Neue Patient*innen zu erreichen war gänzlich unmöglich.
Der Lockdown verschlimmerte die Gewalt gegen ohnehin Betroffene noch. Täter verbrachten mehr Zeit zu Hause und hatten oftmals ihre Jobs aufgrund der schwierigen wirtschaftlichen Lage verloren, sodass zur sozialen Isolation eine enorme finanzielle Unsicherheit hinzukam. Faktoren, die bekanntermaßen häusliche Gewalt schüren. „Die Gewalt hat auf jeden Fall zugenommen”, sagt Dr. Geetika Singhal, eine Ärztin in der UKK. „Doch Überlebende konnten nicht zu uns kommen und nach Hilfe fragen.”
Ein Teufelskreis aus Gewalt und Scham
„Wenn man über Gewalt durch Intimpartner nachdenkt, wäre die einfachste und offensichtlichste Lösung: Du beendest die Ehe und dein Problem ist gelöst. Doch diese Option gibt es für die meisten Frauen, die herkommen, gar nicht“, erklärt Dr. Singhal. Die meisten Frauen sind finanziell von ihren Ehemännern abhängig. Das stellt die größte Hürde dar, sich zu trennen. Da zudem viele von ihnen Migrant*innen sind, kennen sie sich in der Gegend und im Rest der Gemeinde nicht aus. Auch fehlt häufig Rückhalt von Freund*innen und Bekannten, denn gewalttätiges Verhalten und das Ertragen von Leid sind in der indischen Gesellschaft bereits normalisiert: „Das indische Gesetz sieht Vergewaltigungen in der Ehe nicht als Straftat an”, erklärt Divya Batra, unsere Beraterin für psychische Gesundheit. „Das soll suggerieren, dass daran nichts Falsches ist.”
So ergibt sich für viele Betroffene ein Teufelskreis: „Selbst, wenn wir ihnen Medizin geben und ihre Verletzungen behandeln, werden sie wieder zu der gleichen Person nach Hause gehen. Dann kommen sie einen Monat später mit den gleichen Problemen wieder”, sagt Divya. „Für diese Frauen muss es wirklich schrecklich sein und auch wir fühlen uns manchmal hilflos in dem Teufelskreis. [Die Überlebenden] haben akzeptiert, dass das ihre Realität ist und sehen die Gewalt nicht als etwas, das sich ändern muss. Doch da kommt ihnen unser Team zur Hilfe. Sie sagen ihnen, dass es eine Lösung gibt (…).“
Respekt und Diskretion sind ausschlaggebend für die Behandlung von Betroffenen
„Bevor es das Projekt von Ärzte ohne Grenzen gab, haben wir Überlebende sexualisierter Gewalt in die staatlichen Krankenhäuser geschickt, doch dort wollten sie oft nicht hin“, berichtet Seema. Was unsere Hilfe wahrscheinlich am meisten von anderen in diesem Gebiet unterscheidet, ist der Fokus auf die Privatsphäre.
Die Namen von Patient*innen werden vor anderen niemals erwähnt, ihre Geschichten werden in persönlichen Gesprächen ausgetauscht und sie müssen ihre Erfahrungen nicht mehrmals wiederholen. Mitarbeitende auf jeder Ebene sind darauf trainiert, die Privatsphäre von allen Patient*innen zu schützen. In staatlichen Krankenhäusern ist das nicht der Fall.
Indien ist kein Einzelfall: Häusliche Gewalt steigt während der Lockdowns weltweit an
Die Situation in Indien ist kein Einzelfall. Laut UN Women sind die Meldungen und Anrufe bei Notruf-Nummern für häusliche Gewalt in Ländern wie Deutschland, Frankreich, Italien, Singapur und Peru während des Lockdowns deutlich gestiegen. Obwohl bekannt ist, dass eine solche Krise zu einem Anstieg an Gewalt gegen Frauen und Kindern führt, wurden politische Entscheidungen getroffen, die Überlebenden sexualisierter oder geschlechtsspezifischer Gewalt den Zugang zu Hilfen erschwert oder gar unmöglich macht.
Nach Angaben von UN Women melden mindestens 60 Prozent der Frauen, die sexualisierte Gewalt erleben, ihre Erlebnisse nicht. Die Faktoren, die es so schwierig machen, sexualisierte Gewalt anzuzeigen und Hilfe zu suchen - einschließlich Angst, Scham und Stigmatisierung - sind für Überlebende von Gewalt in der Partnerschaft besonders gravierend und verringern die Wahrscheinlichkeit, dass sie einen missbrauchenden Partner verlassen. Das muss sich dringend ändern.