Notfall-Krankenhaus bei Mossul: „Jeder arbeitet rund um die Uhr, damit wir weiter Leben retten können“
Jonathan Whittall arbeitet seit drei Wochen für Ärzte ohne Grenzen in einem neu eröffneten Notfall-Krankenhaus in einem Dorf im Süden von Mossul. Seit der Eröffnung am 16. Februar wurden dort schon knapp 1.300 Patienten behandelt. Etwa die Hälfte von ihnen waren Frauen (261 Patienten) und Kinder unter 15 Jahren (395 Patienten). Im Interview erzählt Jonathan von der Arbeit des Teams, das aus internationalen und irakischen Mitarbeitern besteht und 24 Stunden für Notfälle im Einsatz ist.
Wie sieht ein typischer Tag im Krankenhaus aus?
Es gibt keinen typischen Tag in diesem Krankenhaus. Wir sehen die schlimmsten Kriegsverletzungen. Jeden Tag kommen neue Patienten und jeder einzelne hat Furchtbares zu berichten: Von einer gesamten Familie gab es nur einen Überlebenden. Ein Vater war mit seinem Sohn tagelang unter den Trümmern ihres Hauses eingesperrt, nachdem ein Luftangriff es zerstört hatte. Jetzt erst konnten sie sich bei uns behandeln lassen. Ein kleiner Junge kam mit einer Schusswunde im Kopf zu uns. Der Vater eines anderen Jungens hat uns erzählt, dass sein Sohn von einem Scharfschützen angeschossen wurde und für mehrere Tage zu Hause behandelt wurde, bevor er zu uns gebracht werden konnte. Jetzt ist er gelähmt. Ein Baby mit einer Schusswunde wurde zu uns gebracht. Ein extrem mangelernährter 21-jähriger Mann wurde hereingetragen, nachdem er ein stumpfes Kopftrauma durch einen Gewehrkolben erlitten hatte. Ein Mann kam tot bei uns an. Er wurde verletzt, als er sein Kind vor einer nahen Explosion schützte. Für jeden dieser Fälle gibt es noch einmal hunderte weitere, die genauso schlimm sind.
Wer sind die Menschen, die ihr behandelt?
Wir kümmern uns um die schwersten Fälle, die sogenannten roten Fälle. Das sind Patienten, die sofort lebensrettende Maßnahmen oder eine Operation benötigen, um zu überleben. Unsere zwei Operationssäle sind fast immer im Einsatz. Nach der OP verlegen wir die Patienten so schnell wie möglich in andere Krankenhäuser, damit wir neue „rote Fälle“ oder Massenanfälle von Verletzten aufnehmen können.
In den vergangenen zwei Monaten haben Teams von Ärzte ohne Grenzen mehr als 2.000 Notfallpatienten rund um Mossul behandelt. Die große Mehrheit von ihnen ist durch die Kämpfe verletzt worden. In dem Krankenhaus im Süden Mossuls, in dem ich arbeite, haben wir etwa 1.300 davon behandelt.
Welche Verletzungen behandelt ihr?
Wir sehen jede Kriegsverletzung, die man sich nur vorstellen kann – mehrere Schusswunden, Explosionsverletzungen, schwere Verbrennungen. Wir geben unser bestes, den medizinischen Bedürfnissen nachzukommen, die bei den Kämpfen in der Stadt entstehen und denen die Bevölkerung ausgesetzt ist. Jeder ist in Gefahr. Zusätzlich zu ihren Verletzungen befinden sich unsere Patienten in extrem besorgniserregendem Zustand. Viele von ihnen leben seit Monaten durch Kämpfe und Belagerung abgeschnitten von der Außenwelt. Sie haben seit Tagen nichts gegessen, sind verängstigt und verwirrt. Viele von ihnen kommen barfuß und sind voller Schlamm, nachdem sie durch Regen gelaufen. Oft haben sie nachts Kampfgebiet durchquert und erreichen uns mit nichts als den Kleidern, die sie gerade tragen.
Unsere Ärzte und Chirurgen behandeln auch Patienten, die durch zurückgebliebenes Kriegsmaterial verletzt werden. Vor wenigen Monaten lag die Stadt, in der wir arbeiten, noch an der Frontlinie. Heute ist sie eine Anlaufstelle für Zehntausende Familien, die aus West-Mossul fliehen. An einem Abend zum Beispiel kamen mehrere verwundete Patienten zu uns, nachdem eine alte Mine hochgegangen war – ganz in der Nähe eines Vertriebenenlagers, in dem Flüchtende aus Mossul Schutz suchen. Diese Woche wurde morgens ein vier Jahre altes Kind aus der Stadt eingeliefert, das bei der Ankunft bereits tot war. Es hatte mit einem Blindgänger gespielt, der dann in seinen Händen explodiert war.
Wie kommen die Patienten zum Krankenhaus?
Für die Patienten ist es extrem schwierig, medizinische Hilfe zu bekommen. Unsere Patienten wurden oft schon bei Erste-Hilfe-Posten nahe der Frontlinie erstversorgt und stabilisiert. Meiner Erfahrung nach werden die meisten Menschen verletzt, wenn sich die Frontlinie verschiebt und direkt durch ihr Wohnviertel verläuft. Viele werden bei einem Fluchtversuch verletzt. Wir haben Patienten gesehen, die wahrscheinlich durch Scharfschützen in den Kopf getroffen wurden. Und wir haben Patienten, die bei Luftangriffen verletzt wurden. Menschen, die in den vom IS kontrollierten Gebieten sind, brauchen oft Tage, um zu medizinischer Hilfe im Süden Mossuls zu gelangen. So wie wir das verstehen, schaffen sie es erst zu einem medizinischen Posten, wenn das Kampfgebiet sich verlagert hat. Wir sind sehr besorgt über Berichte, dass viele Menschen in West-Mossul eingeschlossen und verwundet sind, ohne die Hoffnung auf Hilfe.
Seitdem wir angefangen haben, waren die vergangenen Tage die ruhigsten im Krankenhaus. Aber das liegt nicht daran, dass die Gewalt in West-Mossul abgenommen hat. Es ist vielmehr eine unheilvolle Ruhe. Denn die Luftangriffe gehen weiter und Patienten schaffen es nicht zu uns.
Wie beeinflusst die Arbeit euer Team?
Die Mitarbeiter des Krankenhauses kommen aus vielen verschiedenen Teilen des Iraks und der Welt. Bei uns arbeiten medizinische Mitarbeiter, die nicht länger in ihren Krankenhäusern in Mossul arbeiten können sowie internationale Mitarbeiter, die teilweise schon jahrzehntelange Erfahrung in Notfallmedizin haben und in mehreren Kriegen geholfen haben. Dazu kommt das nicht-medizinische Personal: Wachmänner, Übersetzer und Logistiker, die das Krankenhaus am Laufen halten. Für die Kollegen, die selbst aus Mossul kommen, ist es besonders schwer, das Ausmaß der Zerstörung und des Leids zu sehen. Andere kommen aus der Stadt, in der wir arbeiten und sind selbst dabei, ihr Leben wieder aufzubauen, nachdem die Kämpfe erst vor wenigen Monaten durch die Stadt gezogen sind. Unser Krankenhaus ist umgeben von zerstörten Häusern. Jeder hat jemanden in diesem Krieg verloren. Trotz allem hat dieses Krankenhaus eine der besten Teamdynamiken, die ich je erlebt habe. Jeder arbeitet rund um die Uhr und ist immer bereit, sich anzupassen und Lösungen zu finden, damit wir weiter Leben retten können. Wir sind alle extrem stolz auf das, was hier geleistet wird.