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Der Krieg zerstört nicht nur Leben, sondern auch die Seele

Der Krieg im Jemen nimmt an Heftigkeit weiter zu. Den Menschen macht zudem der Winter zu schaffen. Doch dass neben Unterkunft, Nahrung und medizinischer Versorgung noch andere Unterstützung überlebenswichtig ist, wird allzu oft vernachlässigt: Unsere Teams sind die einzigen, die den Vertriebenen psychologisch helfen. Der Bedarf ist immens. Wer ihre Geschichten hört, versteht, warum. 

Im Zentrum des Landes kann man exemplarisch sehen, wie schlimm die Lage ist: Der Winter in der Wüste von Marib ist hart, mit heftigen kalten Winden und Temperaturen unter 10 Grad Celsius. Die Provinz ist seit Monaten stark umkämpft. In der Region, in der seit mehreren Jahren ohnehin schon viele Vertriebene Schutz gesucht hatten, mussten allein seit September 2021 rund 60.000 Menschen fliehen. Auch viele, die eigentlich nach Saudi-Arabien wollten, um Arbeit zu finden, sitzen dort fest. 

Tausende Familien leben dort in rund 150 formellen und informellen Camps – es besteht ein hohes Risiko, dass Krankheiten wie Masern, Cholera und Covid-19 ausbrechen. “Wir haben keine Decken, um uns zuzudecken”, sagt Aafia G.¹ “Meine Kinder haben keine warme Kleidung und ich habe nicht genug zu essen, um sie zu ernähren. Ich habe nur ein Zelt, das in kalten Winternächten nicht einmal den Wind abhält.” Noch mehr Vertriebene haben bei der lokal ansässigen Bevölkerung Unterschlupf gefunden.

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Zelte und Gerüste über denen Kleidung zum trocknen hängt, ein kleiner Junge in Rückenansicht
In den Camps leben Tausende Familien, die der kalten Jahreszeit und Krankheiten ausgesetzt sind.
© Hesham Al Hilali

Familienprobleme, da traditionelle Rollen aus den Fugen geraten 

Wir betreiben in Marib acht mobile Kliniken und ein Gesundheitszentrum. Posttraumatische Stresssymptome sind bei unseren Patient*innen keine Seltenheit. Viele haben Familienmitglieder verloren. Sie haben quälende Bilder im Kopf und sind geplagt von Albträumen. Wird von der Front gesprochen, löst das bei vielen Herzrasen aus. Die meisten versuchen - soweit möglich - alles zu vermeiden, was sie an das Geschehene erinnern könnte.  

Die Symptome sind bei Frauen, deren Angehörige in diesem Krieg kämpfen, besonders ausgeprägt. Die 29-jährige Asifa S.¹, die mit ihrem Mann und fünf Kindern in einem überfüllten Zelt in einem Camp lebt, erzählt von der Verschlechterung der Beziehung zu ihrem Ehemann: "Nach der Vertreibung wurde er sehr wütend und ließ seine Wut immer an mir und den Kindern aus. Er wurde auch sehr misstrauisch gegenüber allem. Er hat die Kontrolle ... verloren; er sorgt nicht für uns. Er denkt, wir hören nicht mehr auf ihn.“ 

An der Front kämpfen, um zu überleben 

Etwa 50 Prozent der Frauen, die zu Einzelgesprächen in unsere mobilen Kliniken kamen, gaben an, dass sich ihre psychischen Probleme aufgrund von Familienproblemen seit der Vertreibung verschlimmert hätten. Viele Ehemänner verhalten sich seither entweder ziemlich kontrollierend oder vernachlässigen sie.  

Auch die Männer kommen mit vielen Beschwerden zu uns. Es belastet sie, dass es keine andere Möglichkeit für sie gibt, Geld zu verdienen, als im Krieg zu kämpfen. Sie fühlen sich hilflos, weil sie ihrer traditionellen Rolle als Ernährer und Beschützer der Familie nicht gerecht werden können. Das belastet ihre psychische Gesundheit und führt zu ihrem veränderten Verhalten.

Gegenseitiger Unterstützung in einer vertrauten Gemeinschaft fehlt 

In den Camps versammeln sich fremde Menschen aus verschiedenen Teilen des Jemen. 70 Prozent der Klient*innen, die bei uns zwischen November 2020 und November 2021 eine individuelle Beratung zur psychischen Gesundheit in Anspruch nahmen, gaben an, dass die Auslöser ihrer psychischen Probleme mit der Vertreibung zusammenhingen. 

Die Unterstützung durch die Gemeinschaft fehlt, wie die Menschen sie aus dem Leben an ihren angestammten Wohnorten kennen. Das führt dazu, dass sie frustriert sind und sich hoffnungslos fühlen. 

Migrant*innen: Traurig, allein und ohne Hoffnung 

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Eine Mitarbeiterin von Ärzte ohne Grenzen und eine Patientin in einem Camp im Jemen
Viele Menschen erleben auf ihrer Flucht sexualisierte Gewalt. Auch dadurch steigt der Bedarf an psychologischer Unterstützung.
© Hesham Al Hilali

Die Migrant*innen leben auf der Flucht oftmals noch vereinzelter. So etwa die 17-jährige Samira T.¹ Sie hat auf der Suche nach Arbeit versucht, von Äthiopien nach Saudi-Arabien zu gelangen. Samira lebt im Moment in der Stadt Marib, die an der Kriegsfront liegt. Wie viele Migrant*innen kam sie mit körperlichen Beschwerden zu uns und wurde von einer unserer Ärzt*innen zur psychologischen Beratung überwiesen.  

Auf dem Weg in den Jemen erlebte Samira sowohl sexualisierte als auch körperliche Gewalt. Mit mehr als 20 anderen Frauen wohnt sie jetzt in einem kleinen Zelt. Sie hat kein Geld, um Essen oder warme Kleidung zu kaufen, und keine Möglichkeit, mit ihrer Familie zu kommunizieren. Samira sagt, sie fühle sich "wertlos und sehe keine Hoffnung". Sie ist die meiste Zeit traurig und ängstlich und isoliert sich von anderen.  

Menschen mit einem vergleichbaren Schicksal wie Samira gibt es viele in Marib. Da ihre Reisen nach Saudi-Arabien über Schmuggler organisiert werden, sind sie auf ihrem Weg meist körperlicher und sexueller Gewalt ausgesetzt. Aber auch in Marib sind sie vor Gewalt nicht sicher. 

Migrant*innen sind in besonderer Zwangslage und nur schwer zu erreichen 

Der Bedarf der Menschen an psychischer Gesundheitsfürsorge ist sichtlich groß. Trotzdem ist dieser Bereich einer der am meisten vernachlässigte in der Gesundheitsversorgung im Jemen. Innerhalb eines Jahres haben wir in Marib 265 Einzelberatungen für Migrant*innen abgehalten. 76 Prozent der Menschen litten unter mittelschweren bis schweren Angstsymptomen, darunter hatten 32 Prozent Symptome einer Depression und Selbstmordgedanken. 

Die Betreuung von Patient*innen mit Migrationshintergrund ist eine Herausforderung, da ihre Schmuggler oft bei ihnen leben und sie überallhin begleiten. Frauen in dieser Situation haben keinen Zugang zu Mobiltelefonen, und Hausbesuche durch uns sind nicht möglich. Außer bei einem medizinischen Notfall, dürfen sie nicht mit anderen Menschen sprechen.  

Die männlichen Migranten kommen nur aus gesundheitlichen Gründen zu uns, den Rest der Zeit arbeiten sie unter unmenschlichen Bedingungen, um zu überleben. 

Wir sind die einzigen, die psychologische und psychiatrische Beratung anbieten 

In Marib leben etwa zwei Millionen Menschen. Wir sind die einzigen, die an acht verschiedenen Standorten in Marib Beratung und psychiatrische Betreuung durch geschultes medizinisches Personal anbieten. Viele verstehen erst durch ihre Begegnung mit unseren Mitarbeiter*innen, dass ihre körperlichen Symptome teilweise psychische Ursachen haben. Nachdem wir mit ihnen gearbeitet haben, berichten sie uns, dass ihre Schlafprobleme abgenommen haben. Sie können besser mit ihrer Traurigkeit und ihren angstvollen Gedanken umgehen. Sie haben gelernt, Alternativen in ihrem täglichen Handeln in Betracht zu ziehen und sich zwischendurch zu entspannen. So können sie sich mehr auf die Bewältigung ihres Alltags konzentrieren.   

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Ein Junge springt in der Wüste bei Marib hoch mit einem Luftballon in der Hand
Ein Moment der Hoffnung - viele Patient*innen berichten, dass es ihnen nach der Betreuung durch unsere Teams besser geht.
© Hesham Al Hilali

Wir geben auch Informationen weiter und versuchen das Bewusstsein für die Symptome psychischer Erkrankungen und Möglichkeiten der Stressbewältigung zu schärfen. Wir helfen den Menschen, Zugang zu den grundlegenden Dienstleistungen für ihr Überleben und ihre Sicherheit zu erhalten. Die überwältigenden Bedürfnisse im Bereich der psychischen Gesundheit in Marib können wir aber allein nicht erfüllen.

 

¹ Aus Vertraulichkeitsgründen verwenden wir fiktionale Namen