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Beirut, Stadt der gebrochenen Seelen

Zwei Monate nach der verheerenden Explosion im Hafen von Beirut sind viele Einwohner*innen sich selbst überlassen. Nach der Währungskrise und Jahren politischer Gewalt fällt es einigen schwer, Hoffnung in einer aussichtslosen Situation zu finden. Die Pandemie und die zerstörte Stadt sind eine enorme Belastung und unsere Psycholog*innen und Psychiater*innen diagnostizieren bei Betroffenen oft Depressionen und Angstzustände. „Die Menschen brauchen jede Art von Hilfe, die wir ihnen geben können“, sagt unsere Ärztin Dr. Aline Youssuf. 

Ihre einst schöne Wohnung im Zentrum Beiruts ist heute stille Zeugin des Elends. Im Eingangsbereich gibt es Mäuse, altes Brot liegt auf einem Stuhl im Wohnzimmer und leere Medikamentenschachteln neben den leeren Teetassen auf dem Tisch. Die Familie kann es sich nicht leisten, Lebensmittel zu kaufen und ist stattdessen auf die Unterstützung von Hilfsorganisationen angewiesen.

Für Hoda (60) ist das morgendliche Aufstehen ein Kampf. Klinisch depressiv, sieht sie keinen Sinn in ihrem Leben. "Meine Mutter sagt, solange wir Essen auf dem Tisch haben - auch wenn es aus einer Suppenküche kommt - und ein Bett zum Schlafen, sollten wir dankbar sein", sagt Hoda, die bei ihren Eltern lebt. "Aber ich komme morgens immer noch nicht aus dem Bett. Jeden Tag frage ich mich: Warum bin ich noch am Leben?"

Hoda ist mit ihrem Leiden nicht allein.

Hoffnungslosigkeit

Beirut wird seit Jahren für die bemerkenswerte Widerstandsfähigkeit seiner Bevölkerung gelobt. Lange Zeit von politischer Gewalt, Krisen, Armut und sogar Krieg geplagt, hat die Stadt es irgendwie immer geschafft durchzukommen. Doch dieses Jahr ist anders: Die Währungskrise, die Pandemie und die Explosion haben der Stadt eine so schwere Last aufgebürdet, dass es für viele Menschen schwer ist, das Licht am Ende des Tunnels zu sehen.

"Die Menschen fühlen sich hoffnungslos und das geht einher mit Stress, Schlafstörungen und Essstörungen", berichtet unser klinischer Psychiater Dr. Hussain Najm und fügt hinzu, dass die häufigsten Diagnosen, die er und seine Kolleg*innen in den letzten Wochen gestellt haben, Depressionen und Angstzustände sind. Bei Menschen, die bereits vor der Explosion an psychischen Erkrankungen wie Schizophrenie oder Psychosen litten, haben sich die Symptome verschlimmert. Für andere, die keine Vorgeschichte psychischer Erkrankungen haben, sind Hypervigilanz, ein Zustand erhöhter Wachsamkeit, und extreme Angst zu ständigen Begleitern geworden.

"In einem Fall haben wir eine Frau in ihren Vierzigern behandelt, die Kinder hat und früher ein normales, bequemes Leben führte", sagt Hussain. "Ihr Haus überblickt den Hafen. Seit der Explosion hat sie es nur einmal verlassen." Ein anderer Patient, an den er sich erinnert, ist ein Mann, der auch vor der Explosion ein bequemes Leben führte, jetzt aber täglich mit Suizidgedanken kämpft.

Wenn Zuhause sich nicht mehr wie Zuhause anfühlt

"Das Zuhause sollte ein sicherer Ort sein, an dem wir Obhut finden", sagt Hussain. Doch am 4. August dieses Jahres  wurden die Häuser von Hunderttausenden Libanesen in einer Monsterexplosion beschädigt oder zerstört, die so verheerend war, dass sie weit über die Grenzen der Stadt hinaus spürbar wurde. "Wir haben die Sicherheit verloren, die unsere eigenen Häuser eigentlich bieten sollte", fügt er hinzu.

Hussain und seine Kolleg*innen führen Hausbesuche durch und bieten telefonische Beratungen an. Solche Beratungen sind lebensrettend, vor allem für Menschen, die das Gefühl haben, sich an niemanden wenden zu können. "Einsamkeit ist eines der schwierigsten Gefühle, die ein Mensch empfinden kann, wenn er verletzt ist", sagt Hussain.

Fehlende Perspektiven

Najah (71) lebt im Viertel Karantina, das nah am Hafen liegt und somit nah an der Explosion war. Er arbeitete sein ganzes Leben lang, um seinen fünf Töchtern die Ausbildung zu geben, die sie verdienen. Anfang dieses Jahres verlor er aufgrund der Covid-19-Pandemie seine Arbeit und ist auf die Unterstützung seiner Kinder angewiesen. 

"Lassen Sie mich Ihnen von Beirut erzählen", sagt er. "Mit dieser Stadt stimmt alles nicht. Es sind nicht nur die Korruption und die Politiker*innen. Das Land funktioniert einfach nicht richtig. Der ganze Glanz, den man von außen sieht, ist nur eine Fassade. Hier ist man ein Niemand, ohne die richtigen Kontakt ist es sogar schwierig einen Job zu bekommen", sagt er. 

Der zweiundfünfzigjährige Fadi, der mit seiner Tochter in einer Wohnung in der Nähe des zerstörten Hafens lebt, stimmt dem zu. Ihre Wohnung wurde bei der Explosion schwer beschädigt, aber sie können es sich nicht leisten, sie zu renovieren, also müssen sie warten, bis ein Verein einspringt und hilft.

"Es gibt keine Zukunft, über die man sprechen könnte. Was kann ich tun?", sagt er.

Den älteren Menschen helfen

In diesem verzweifelten Kontext geht die Hilfe, die unsere Teams vor Ort leisten, über die rein medizinischen Parameter hinaus, erklärt unsere Ärztin Dr. Aline. "Die Menschen brauchen jede Art von Hilfe, die wir ihnen geben können. Sie sind ängstlich, deprimiert und haben Angst, dass sich eine solche Explosion wiederholen könnte oder dass ein anderes tragisches Ereignis eintritt", sagt sie.

Sie und ihre Kolleg*innen machen Hausbesuche vor allem bei älteren Menschen, die ihr Zuhause nicht verlassen können, versorgen sie mit Medikamenten und bieten Physiotherapie an - denjenigen, die nicht selbst einkaufen gehen, bringen sie sogar Lebensmittel.

"Mehrere Krankenhäuser in Beirut wurden bei der Explosion beschädigt. Daher finden selbst Menschen, die möglicherweise ins Krankenhaus eingeliefert werden müssen, kein Bett. Und in anderen Fällen gibt es Menschen, die behandelt werden müssen, aber kein Geld dafür haben. Viele Menschen, die in der Gegend um die Explosion leben, sind arm. Sie können sich die Krankenhausgebühren nicht leisten", sagt Dr. Aline. 

"Als libanesische Staatsbürgerin hätte ich nie gedacht, dass ich jemals eine solche Zeit erleben würde", sagt Dr. Aline. "Ich habe noch nie Menschen gesehen, die so ausgelaugt, so traurig, emotional so dünnhäutig sind."