Eine Krise nach der anderen – die Menschen brauchen mehr Hilfe
Wirtschaftskrise, politische Instabilität und soziale Spannungen: Seit Ende 2019 befindet sich der Libanon in einer massiven Krise. Auch die Covid-19-Pandemie und die verheerende Explosion im August 2020 in der Hauptstadt Beirut haben das Land hart getroffen. Unsere Mitarbeiter*innen berichten, dass die gestiegene Armut bereits im vergangenen Jahr zahlreiche Patient*innen in finanzielle Schwierigkeiten gebracht hat. Immer mehr Menschen wenden sich an uns, weil sie sich Behandlungskosten in dem stark privatisierten Gesundheitssystem nicht mehr leisten können. Es bereitet uns große Sorgen, dass einige ihre Medikamente nicht mehr bezahlen können und wir Auswirkungen der Krise auch auf ihre psychische Verfassung bemerken.
Laut den Vereinten Nationen ist mehr als die Hälfte der libanesischen Bevölkerung von Armut betroffen, das entspricht mehr als einer Verdopplung gegenüber dem Vorjahr*. Hinzu kommt, dass das Land im Vergleich zur Einwohner*innenzahl weltweit die meisten Flüchtlinge aufgenommen hat. Von den syrischen Geflüchteten im Libanon leben Schätzungen zufolge 89 Prozent in extremer Armut.** Die jährliche Inflationsrate lag im November 2020 bei 133 Prozent.***
In unserer Klinik in Hermel, im Norden der Bekaa-Ebene, hat sich die Zahl der libanesischen Patient*innen mit chronischen Krankheiten zwischen 2019 und 2020 mehr als verdoppelt. In Arsal, einer anderen Stadt der Region, hat die Zahl der pädiatrischen Konsultationen innerhalb eines Jahres um 100 Prozent zugenommen.
Gesunde Ernährung für viele Kranke nicht mehr möglich
Für Diabetiker*innen ist z.B. eine ausgewogene Ernährung zentral, damit sie die Blutzuckerwerte im Griff haben und die Risiken für Komplikationen verringern können. In unseren Kliniken im Land klagen die Patient*innen jedoch darüber, dass sie nur schwer an Lebensmittel wie Fleisch, Huhn oder gewisse Gemüsesorten kommen.
Ahmed ist ein syrischer Flüchtling, der mit seiner Familie in einer informellen Zeltsiedlung außerhalb Arsals lebt. Vor vier Monaten wurde bei seiner jüngsten Tochter, der eineinhalb Jahre alten Zeinab, eine Anämie (Blutarmut) diagnostiziert. „Sie machte einen sehr kranken Eindruck. Sie war ganz blass und ass fast nichts mehr", erinnert sich Ahmed. „Der Arzt verschrieb uns ein Eisenpräparat und empfahl uns, ihr mehr Gemüse und Hülsenfrüchte zu geben, denn Fleisch liegt für uns nicht mehr drin.".
Eine Krise nach der anderen
Die Covid-19-Pandemie und die verheerende Explosion im Hafen von Beirut führten zur weiteren Verschlechterung der Lage. Tausende wurden bei der Katastrophe verletzt und Zehntausende
obdachlos. Außerdem wurden öffentliche Einrichtungen wie Krankenhäuser zerstört. Auch das Zentrallager der Gesundheitsbehörde wurde stark beschädigt. Wegen der Finanzkrise gab es schon vorher Engpässe bei Medikamenten und medizinischem Material – die weitere Entwicklung lässt Probleme befürchten: Eine Umfrage**** von uns unter Patient*innen mit chronischen Krankheiten ergab, dass 29 Prozent von ihnen schon vor der Explosion ihre Medikamente abgesetzt hatten oder nicht mehr im ganzen Umfang einnahmen. Fast die Hälfte dieser Patient*innen gab an, dass finanzielle Schwierigkeiten der Grund dafür waren, bei 11 Prozent waren es Medikamentenengpässe.
Familien haben Angst, dass sie wählen müssen, wer noch Medikamente bekommt
Die Libanesin Mariam leidet an mehreren chronischen Krankheiten, darunter an Diabetes und Herz-Kreislauf-Problemen. Sie hat acht Kinder, ihr jüngster Sohn ist an Asthma erkrankt. Sie erzählt: „Ich bekomme Angst, wenn ich daran denke, was wäre, wenn ich nicht mehr arbeiten könnte. Wie könnte ich dann all die Medikamente kaufen? Ich müsste mich wohl zwischen den Medikamenten für meinen Sohn und meinen eigenen entscheiden."
Seit der Explosion hat das Gesundheitswesen auch mit der steigenden Zahl der Covid-Erkrankungen zu kämpfen. Betrug die Zahl der Neuansteckungen vor der Explosion pro Tag weniger als 200, lag sie im Dezember bei durchschnittlich 1.500. Bis heute wurden mehr als 199.000 Infektionen registriert. Die Ausgangssperre aufgrund der Covid-19-Pandemie hat wiederum die wirtschaftlichen Probleme zusätzlich verschlimmert. Die Menschen haben weniger oder gar keine Arbeit.
Wir haben Covid-Hilfsmaßnahmen Mitte vergangenen Jahres verstärkt
Wir haben beispielsweise unser Krankenhaus in Bar Elias in ein Behandlungszentrum für Covid-19-Patient*innen umfunktioniert. Es hat 20 Betten, und die Intensivstation ist seit Ende September ständig voll belegt. Wir helfen zudem u.a. an mehreren Orten bei Testaktivitäten, Maßnahmen zur Gesundheitsförderung und bei Schulungen mit.
Psychische Folgen: „Es gibt rein gar nichts, was mich trösten kann"
Viele Menschen im Libanon, ob Einheimische, Geflüchtete oder Wanderarbeiter*innen, hatten bereits früher mit belastenden und traumatischen Erfahrungen durch Krieg oder Vertreibung zu kämpfen. Die sich verschlimmernden Stressfaktoren haben dazu geführt, dass zahlreiche Patient*innen bei uns wegen Ängsten, Depressionen und Verzweiflung psychologische Hilfe suchen.
Fatima in Hermel ist verzweifelt. „Ich weine viel und fühle mich schuldig wegen meiner Tochter, die für ihr Alter viel zu viel Verantwortung tragen muss. Es gibt rein gar nichts, das mich trösten kann", sagt sie. „Die Wirtschaftskrise war der Todesstoß. Alles, was ich mir wünsche, ist ein menschenwürdiges Leben."
Jede weitere Krise beeinträchtigt die Widerstandskraft der Menschen, für sie wird es immer schwieriger.
Ärzte ohne Grenzen im Libanon
Wir stehen besonders bedürftigen Menschen zur Seite, seien es Libanes*innen oder Menschen aus anderen Ländern. Wir sind an rund zehn Orten tätig, an denen unsere Teams psychologische Hilfe, Leistungen im Bereich der sexuellen und reproduktiven Gesundheit, der Pädiatrie, für Impfungen und die Behandlung chronischer Krankheiten anbieten. Mit mehr als 600 Mitarbeitenden halten wir jährlich rund 150. 000 Sprechstunden ab.
Quellen:
* Lebanon Poverty Report 2020
** UN study on Syrian refugees in Lebanon
*** Arabian Business: Lebanon's inflation rate
**** vom 9. bis 22. September 2020 durchgeführte telefonische Umfrage unter 253 Patient*innen