Ärzte ohne Grenzen behandelt inhaftierte Flüchtlinge und Migranten
Das nordafrikanische Land Libyen ist von Konflikten zerrüttet: In mehreren Regionen wird gekämpft. Die Unsicherheit, der wirtschaftliche Zusammenbruch und das Fehlen von Recht und Ordnung bedeuten große Herausforderungen für das tägliche Leben. Zusätzlich ist das Land gleichzeitig Ziel und Durchreisestation für hundertausende Geflüchtete, Asylsuchende und Migranten, die vor Konflikten, extremer Armut oder Verfolgung auf der Flucht sind.
Einmal in Libyen, können viele Menschen nicht mehr zurück in ihre Heimatländer. Geflüchtete und Asylsuchende werden nicht durch ein funktionierendes Asylsystem geschützt. Die eingeschränkte Rolle des Flüchtlingswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) und der Fakt, dass Libyen der Flüchtlingskonvention nicht beigetreten ist, verschlechtern die Situation zusätzlich.
Die Menschen sind einem alarmierend hohen Niveau von Gewalt und Ausbeutung durch Sicherheitskräfte, Milizen, Schmugglernetzwerke, kriminelle Gruppen und Einzelpersonen ausgesetzt. Unsere Teams auf den Rettungsschiffen im Mittelmeer haben viele Berichte gehört und die Narben der mehr als 50.000 Geretteten gesehen, die Libyen durchquert und sich auf die gefährliche Überfahrt gemacht haben.
Wer auf dem Mittelmeer von der libyschen Küstenwache abgefangen oder in Libyen selbst gefangengenommen wird, wird zu Haftanstalten für Migranten gebracht. Dies sind häufig ehemalige Fabriken oder Warenhäuser. Unter unmenschlichen und unhygienischen Bedingungen werden die Geflüchteten hier willkürlich und für lange Zeit festgehalten. Es gibt keine rechtliche Handhabe gegen ihre Gefangennahme, ihre Abgeschnittenheit von der Außenwelt oder die fehlende medizinische Versorgung.
Zugang zu medizinischer Versorgung in Haftanstalten
Ärzte ohne Grenzen betreibt momentan mobile Kliniken in sieben Gefangenenlagern für Geflüchtete in Tripolis und Umgebung. Verwaltet werden diese Haftanstalten von der Direktion für den Kampf gegen illegale Migration (DCIM).
Seit Beginn unserer Aktivitäten im Juli dieses Jahres, haben wir 5.579 medizinische Behandlungen durchgeführt. Unsere Ärzte behandeln im Moment um die fünfzig Personen pro Woche. 32 Schwangere in Gefangenschaft wurden vorgeburtlich betreut und 41 Mal behandelten unsere Teams Kinder unter fünf Jahren. Einige von ihnen waren in der Hafteinrichtung geboren worden. Der jüngste Patient war nur fünf Stunden alt.
Im Falle eines medizinischen Notfalls in einer dieser Hafteinrichtung bemühen wir uns mit Zustimmung der DCIM um eine Überweisung in ein Krankenhaus. Bis jetzt hatten wir 113 dringende oder komplizierte medizinische Fälle, die überwiesen wurden. Davon hatten sieben Menschen ernste psychische Störungen. Jede Überweisung ist kompliziert und zeitaufwändig, weil viele Krankenhäuser in Tripolis keine Afrikaner aus der Subsahara-Region aufnehmen wollen.
Medizinische Not auf Grund von Haftbedingungen
Unsere Ärzte behandeln Menschen mit Atemweginfektionen, akuten Durchfallerkrankungen, Hautkrankheiten und Harnweginfektionen. Die Beschwerden stehen meist in direktem Zusammenhang mit den Haftbedingungen. Diese sind gefährlich überbelegt, verfügen kaum über natürliches Licht oder Belüftung. In einigen Anstalten haben die Festgehaltenen im Schnitt nicht mehr als 0.41m² Platz, so dass sich die Menschen nicht einmal nachts hinlegen können und über zahlreiche Schmerzen klagen.
In den Haftanstalten gibt es zudem zu wenig Nahrungsmittel, was die Menschen anfälliger für Krankheiten macht. Viele Inhaftierte leiden unter dramatischen Gewichtsverlusten und machen einen sehr ausgezehrten Eindruck. Die Menschen zeigen Zeichen von Mangelernährung, was sich auf die kleinen und unausgewogenen Nahrungsmittelrationen von nur 600 bis 800 Kalorien am Tag zurückführen lässt, die meist aus Nudeln bestehen. Manchmal müssen sich fünf oder mehr Inhaftierte eine Ration teilen oder das Essen wird in Gemeinschaftsschüsseln verteilt, was bedeutet, dass die Schwächsten nichts bekommen.
Die Zahl der Erwachsenen mit Mangelernährung steigt an. In der ersten Novemberhälfte registrierte Ärzte ohne Grenzen bereits 41 Menschen, die an gemäßigter oder schwerer Mangelernährung litten. Dass so viele Erwachsene an Mangelernährung leiden, in einem Land, welches weder unter einer Dürre noch unter Naturkatastrophen leidet, gibt Anlass zu großer Sorge.
Gefangene haben keinen angemessenen Zugang zu sauberem Trinkwasser und bekommen manchmal weniger als einen Liter pro Person am Tag zugeteilt. Als Folge leiden sie unter Kopfschmerzen, Verstopfungen und Dehydrierung. Es gibt zu wenig Latrinen und Duschen und die Sanitäranlagen sind in schlechtem Zustand, wodurch Hautkrankheiten, Läuse, Krätze und Flöhe weit verbreitet sind.
Ärzte ohne Grenzen stellt den Gefangenen Hygienesets zur Verfügung. Zudem verteilen wir Wasserkanister, Eimer und Putzmittel in den Haftanstalten. Wenn die Versorgung mit Lebensmitteln zu kritisch wird, verteilen die Teams auch Säcke mit Brot und Käse von den lokalen Märkten. Ärzte ohne Grenzen fordert zudem die verantwortlichen Behörden immer wieder auf, genügend Nahrungsmittel von ausreichender Qualität zur Verfügung zu stellen.
Psychologische Unterstützung
Ein Team für erste psychologische Hilfe unterstützt Inhaftierte, die auf See traumatische Erlebnisse hatten. Nach einem Schiffbruch am 27. Oktober, bei dem mindestens 100 Menschen ertranken, wurden 29 Überlebende betreut. Das Team versucht, auch der libyschen Bevölkerung in der Region um Tripolis psychologische Hilfe und Betreuung anzubieten.
Eine schwierige Entscheidung
Es ist eine schwierige Entscheidung für Ärzte ohne Grenzen in einer Umgebung zu arbeiten, in der Geflüchtete unter menschenunwürdigen Bedingungen eingesperrt sind und nicht wissen, warum und für welchen Zeitraum.
Wir glauben aber, dass wir durch unsere Präsenz und die medizinische Versorgung die Lebensbedingungen der Inhaftierten direkt verbessern können. Unsere Mitarbeiter vor Ort fordern jeden Tag die menschliche Behandlung der Gefangenen, betonen die Wichtigkeit angemessener Nahrungsmittel- und Wasserrationen sowie den Zugang zu Latrinen und Waschmöglichkeiten. Sie fordern die Behörden außerdem dazu auf, Schwangere, Frauen mit Kindern, minderjährige Gefangene und Menschen mit Behinderungen oder in einem schlechten Gesundheitszustand zu entlassen.
Ärzte ohne Grenzen lehnt die unbefristete willkürliche Inhaftierung von Migranten, Flüchtenden und Asylsuchenden in Libyen ab.