Verloren auf der Flucht - Menschen berichten von extremer Gewalt
Unabhängig von ihrem Herkunftsland oder der Fluchtursachen haben fast alle aus dem Mittelmeer Geretteten zuvor Libyen durchquert. Ärzte ohne Grenzen war 2015 erstmals mit mehreren Rettungsschiffen im Mittelmeer im Einsatz, um Bootsflüchtlinge aus Seenot zu retten und sie medizinisch zu versorgen. Auch seit April 2016 sind Einsatzteams unterwegs, um Menschen vor dem Ertrinken zu retten. Die Mitarbeiter haben insgesamt mehr als 25.000 Menschen aus Booten in Seenot gerettet. Viele von ihnen berichteten den Teams von extremer Gewalt, willkürlicher Haft unter unmenschlichen Bedingungen, von Folter, Entführungen, Zwangsarbeit, Ausbeutung und Menschenhandel in Libyen.
„Libyen ist ein sehr gefährlicher Ort. Es gibt eine Menge Bewaffneter. Menschen werden ermordet, und Entführungen kommen häufig vor“, erzählte eine junge Frau, die im vergangenen Jahr im Mittelmeer gerettet wurde. „Bei unserer Ankunft in Tripolis wurden wir mit 600 bis 700 anderen Menschen in einem Haus eingesperrt. Wir hatten sehr wenig zu essen, schliefen übereinander gestapelt und hatten kein Wasser um uns zu waschen. Es war vor allem auch für meine Tochter sehr schwer. Sie wurde oft krank. Es herrschte viel Gewalt. Ich wurde mit bloßen Händen, mit Stöcken und Gewehren geschlagen. Wenn du dich bewegst, wirst du geschlagen. Wenn du sprichst, wirst du geschlagen. Wir verbrachten Monate mit täglichen Schlägen.“
Situation für Flüchtlinge in Libyen sehr gefährlich
Die Situation in Libyen ist durch die Auswirkungen des Bürgerkrieges geprägt. Während Behörden versuchen, ein Gefühl der Normalität wiederherzustellen, bleibt das tägliche Leben auch für viele Libyer nach wie vor ein Kampf; und das Land ist nicht in der Lage, zehntausende Migrantinnen und Flüchtlinge zu unterstützen. Solange die Kämpfe zwischen rivalisierenden bewaffneten Gruppen andauern, bleibt die Situation prekär und gefährlich.
Aus den Gesprächen mit Überlebenden geht hervor, dass Männer, Frauen und zunehmend auch unbegleitete Kinder, von denen einige nicht älter als zehn Jahre sind, Missbrauch durch Schmuggler, bewaffnete Gruppen und Privatpersonen ausgesetzt sind. Viele nutzen die Verzweiflung der vor Konflikten, Verfolgung oder Armut Flüchtenden aus.
Menschenhandel und Zwangsprostitution
Hunderte Gespräche mit Flüchtlingen, die zwischen 2015 und 2016 gerettet wurden, zeigen ein alarmierendes Ausmaß von Gewalt und Ausbeutung, dem Flüchtlinge und Migranten in Libyen ausgesetzt sind. Viele von ihnen erzählen, dass sie selbst davon betroffen waren, fast alle wurden Zeugen extremer Gewalt, von körperlicher oder sexueller Gewalt oder Mord. „Menschen werden verkauft. Menschenhandel ist in Libyen normal“, berichtet Maria*. Die 26-Jährige aus Kamerun wurde im vergangenen Monat von uns im Mittelmeer gerettet. Sie war von vier bewaffneten Männern entführt, vergewaltigt und zur Prostitution gezwungen worden. „Sie haben uns alles weggenommen. Jeder in Libyen hat eine Schusswaffe, sogar die Kinder. Ich habe dreieinhalb Monate in Libyen in zwei verschiedenen Häusern verbracht. Eines Tages ist ein Mädchen vor unseren Augen gestorben. Sie war krank und bekam nichts zu essen und trinken.“
Entführungen, Erpressung und Zwangsarbeit
Fünfzig Prozent der Menschen, die wir 2015 interviewt haben, berichteten, dass sie gegen ihren Willen von der libyschen Polizei oder anderen Behörden, von bewaffneten Gruppen oder kriminellen Banden oft monatelang eingesperrt wurden. Viele erzählen außerdem, dass Entführungen üblich sind, mit der die Geiselnehmer die Familie oder Freunde der Entführten mit Lösegeldforderungen erpressen. Dieses wird über das Hawala-Finanzsystem, einem informellen Überweisungssystem, bezahlt. Manchmal sind die Geiseln selbst in der Lage, ihre Freiheit zu erkaufen – zum Beispiel mit in die Kleider eingenähtem Geld.
Viele Menschen beschreiben, wie sie gewaltsam zu Zwangsarbeit gezwungen wurden. Männer wurden durch „Makler“ gezwungen, während des Tages auf Baustellen oder Farmen zu arbeiten. In der Nacht wurden sie in Privathäusern oder Lagerhallen eingesperrt; oft für mehrere Monate, bis sie sich freikaufen konnten. Viele Frauen berichten, dass sie in Gefangenschaft als Hausangestellte gehalten oder zur Prostitution gezwungen wurden.
Ein junger Mann aus Somalia berichtet nach seiner Rettung in diesem Jahr: „Ich fühlte mich wie „wertvolle Ware“, als ich von jemandem in Sudan für 2.000 Dollar an einen Libyer verkauft wurde. Sudanesische und libysche Händler arbeiten zusammen – es ist wie ein Geschäft. Nachdem ich verkauft wurde, hielten sie mich und viele andere in einer Art Gefängnis. Ich arbeitete tagsüber auf Bauernhöfen und wurde in der Nacht wieder eingesperrt. Viele Menschen sind dort gestorben, weil sie krank wurden und keine Hilfe bekamen. Nachdem ich genug gearbeitet hatte, wurde ich freigelassen und konnte auf einem Boot entkommen."
Folter und extreme Gewalt
Erna Rijnierse, eine Ärztin von uns auf dem Such- und Rettungsboot „Aquarius“ berichtet von ihrem Einsatz im Juni 2016: „Jemand kommt wegen Husten zu dir. Aber wenn er dann sein Hemd auszieht, sieht man all diese Narben von der Folter, die er erlitten hat, und man kann erkennen, dass er gebrochene Knochen hat. Und dann erzählt er all diese schrecklichen Geschichten. Ich habe mindestens 32 Patienten mit eindeutig gewaltbedingten Verletzungen während der vergangenen zwölf Rettungsaktionen gesehen.“
Die Mitarbeiter der medizinischen Teams auf den drei Rettungsschiffen, auf denen wir im Mittelmeer arbeiten, sind Zeugen der physischen und psychologischen Gewalt, die die Menschen in Libyen erlitten haben. In den vergangenen Monaten haben sie unter anderem einen Mann mit einer wochenalten infizierten Wunde durch eine Machete auf seinem Unterarm gesehen; eine junge Frau, die so viele Schläge auf den Kopf erhalten hatte, dass ihr Trommelfell perforiert war; einen Mann mit starken Schwellungen, nachdem er auf die Genitalien geschlagen worden war; einen Mann mit einem gebrochenen Schlüsselbein und vielen Narben über den ganzen Rücken als Folge der Schläge, die er während der Haft erhalten hatte; und einen Mann, der immer wieder brutal mit einer Kalaschnikow geschlagen wurde, sodass die Knochen in seiner Hand zerschmettert waren.
„Gefühle der Verzweiflung“
Während manche Gerettete körperliche Verletzungen davongetragen haben, gibt es auch viele mit unsichtbaren Wunden. Besonders Frauen starren oft nur still auf den Horizont. „Es gibt oft starke Gefühle der Verzweiflung bei den Frauen, die ich während der medizinischen Konsultationen an Bord sehe. Sie erzählen mir von den schrecklichen Erfahrungen, die sie auf der Durchreise durch Libyen gemacht haben. Es gibt Frauen, die vergewaltigt wurden, es gibt ungewollte Schwangerschaften“, so Dominique Luypaers, Hebamme auf der „Bourbon Argos“.
Es ist offensichtlich, dass die Erfahrungen in Libyen schwere psychologische Folgen nach sich ziehen. Laut der medizinischen Daten, die wir während eines Jahres im Aufnahmezentrum in Ragusa auf Sizilien gemacht haben, hatten 60 Prozent der 387 interviewten Bewohner psychologische Probleme. Von den Patienten, die von unseren
Teams behandelt wurden, berichteten 82 Prozent von traumatischen Ereignissen während der Reise, meist in Libyen. Bei 42 Prozent von ihnen wurde ein posttraumatisches Stresssyndrom diagnostiziert, bei 27 Prozent Ängstlichkeit.
Legale Fluchtwege schaffen
Flüchtlinge und Migranten, die verzweifelt versuchen, Libyen zu verlassen, erwartet eine gefährliche Seereise. Schmugglerboote sind fast immer überfüllt, meist sind es kleine Schiffe. Die Menschen sind der Gefahr des Ertrinkens und Erstickens, von Austrocknung und Verbrennungen der Haut durch Kraftstofflachen ausgesetzt. Die Boote sind meist nicht seetüchtig genug, um Europas Küsten zu erreichen. Ohne Rettung erwartet die Menschen der sichere Tod.
Wir fordern, dass jeder Mensch, der Asyl beantragen möchte, gehört und jeder Antrag indviduell geprüft wird. Ohne ein funktionierendes Asylsystem in Libyen können Schutzsuchende nicht in Übereinstimmung mit der Genfer Flüchtlingskonvention behandelt werden. Da Libyen diese nicht ratifiziert hat und im Land noch immer Krieg herrscht, können die EU-Länder nicht davon ausgehen, dass die Rechte von Flüchtlingen in Libyen gewährleistet werden. EU-Länder sollten daher Flüchtlingen die Chance, Europa zu erreichen, nicht verwehren. Sie müssen sichere und legale Fluchtwege schaffen.
* Namen geändert