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Wie man die wachsende Zahl der Toten im Mittelmeer stoppen kann

 

Jens Pagotto leitet die medizinische Hilfe von Ärzte ohne Grenzen in Internierungslagern in Libyen und unseren Seenotrettungseinsatz im Mittelmeer. Hier berichtet er von den katastrophalen Bedingungen in Libyen.

Laut des UN-Flüchtlingshilfswerks sind im vergangenen Jahr mindestens 5.079 Menschen bei dem Versuch ums Leben gekommen, über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen. Das ist ein trauriger Rekord. Solche Todeszahlen verzeichnet Ärzte ohne Grenzen sonst nur in Kriegsregionen.

Wahrscheinlich liegt die Zahl der Toten weitaus höher. Wir wissen nicht, wie viele Schlauchboote voller angsterfüllter Passagiere täglich von Libyen nach Italien aufbrechen. Wir wissen nicht, wie viele von ihnen unbemerkt sinken, ehe sie die verkehrsreichen Schiffsrouten im Mittelmeer erreichen oder einen Hilferuf absetzen können. Laut internationalem Seerecht muss jedes Schiff, das sich in Reichweite von Menschen in Seenot befindet, Hilfe leisten und die gerettete Menschen an einen sicheren Ort bringen. Das gilt gleichermaßen für die kommerzielle Schifffahrt, für Marineschiffe und Rettungsboote von Hilfsorganisationen. Wenn in Seenot geratene Boote aber nicht rechtzeitig entdeckt werden, sinken sie mitsamt den Menschen an Bord auf den Meeresgrund hinab. Dann kann es passieren, dass Tage oder Wochen später Leichen an die Küste Nordafrikas gespült oder in Fischernetzen heraufgeholt werden.

"Meistens stellen unsere Ärzte aber Totenscheine für unbekannte Personen aus"

Zu den traurigsten Aufgaben unserer Teams auf Rettungsbooten gehört es, die Körper ertrunkener Männer, Frauen und Kinder zu bergen. In solchen Fällen stellen unsere Ärzte zunächst fest, ob eine Wiederbelebung noch möglich ist. Wenn das nicht der Fall ist, holen wir die Person an Bord, schätzen ihr Alter und fotografieren sie, bevor wir den Leichnam den italienischen Behörden übergeben. Das internationale Seerecht schreibt vor, dass in einem Todesfall auf See alle Besitztümer bei der verstorbenen Person verbleiben müssen. Doch oft haben die Menschen überhaupt nichts bei sich, manchmal nicht einmal Schuhe. Wir versuchen, irgendwo auf der Kleidung einen Namen oder eine Telefonnummer zu finden. Meistens stellen unsere Ärzte aber Totenscheine für unbekannte Personen aus. Diese Menschen bleiben wohl für immer namenlos und ihre Familien verharren in bangem Warten.

Viele Menschen, die wir lebendig aufs Rettungsboot holen, müssen wegen Unterkühlung, Dehydrierung oder Verätzungen, die von der toxischen Mischung aus Kraftstoff und Salzwasser herrühren, behandelt werden. Nicht wenige Körper tragen Wundmale. Sie zeugen von der Gewalt und der Ausbeutung, denen die meisten von ihnen in Libyen und auf der Reise dorthin ausgesetzt gewesen sind. Ich erinnere mich an eine Frau mit herausgeschlagenen Schneidezähnen und an eine weitere, deren Trommelfell aufgrund von Schlägen gegen den Kopf geplatzt war. Wir sehen Knochenbrüche, Anzeichen von Mangelernährung, Narben von Folterungen, Spuren sexueller Gewalt, infizierte Schusswunden und ungewünschte Schwangerschaften

"Libyen ist weiterhin politisch instabil und ökonomisch am Boden"

Unterdessen gibt es in Libyen keine Anzeichen einer Verbesserung. Das Land ist weiterhin politisch instabil und ökonomisch am Boden. Ordnung und Recht sind außer Kraft, mehrere Landesteile umkämpft. Viele Migranten und Migrantinnen können nicht zurück nach Hause. Geflüchtete und Asylsuchende erhalten keinen Schutz, weil es kein funktionierendes Asylsystem gibt, eine verlässliche Rechtsprechung fehlt und der Handlungsspielraum des UN-Flüchtlingshilfswerks gering ist. Viele Menschen sehen keine andere Möglichkeit, Sicherheit zu finden, als die gefährliche Reise über das Mittelmeer nach Europa anzutreten.

Die Bemühungen der EU, dem Sterben auf dem Mittelmeer durch verstärkte Grenzkontrollen, militärische Aufrüstung und Bekämpfung von Schleppernetzwerken ein Ende zu setzen, haben nur dazu geführt, dass noch mehr Menschen ertrinken. Denn die skrupellosen Schlepper haben ihre Methoden schnell angepasst. Die Überfahrt ist dadurch noch gefährlicher geworden. Die Antwort kann nicht lauten, nun die libysche Küstenwache trotz ihrer fragwürdigen humanitären Bilanz dafür zu trainieren, die Boote aufzubringen und die Menschen nach Libyen zurückbringen. Dort droht den Schutzsuchenden eine willkürliche Inhaftierung ohne Möglichkeit, deren Rechtmäßigkeit anzufechten -  abgeschnitten von der Außenwelt und oft ohne medizinische Versorgung.

"Asylsuchende benötigen endlich sichere und legale Möglichkeiten"

Jegliche Lösung, die das massenhafte Sterben auf dem Mittelmeer beenden soll, muss den Menschen eine praktikable Alternative anbieten. Die EU muss dringend aktiv werden. Asylsuchende benötigen endlich sichere und legale Möglichkeiten wie Familienzusammenführungen, humanitäre Visa, vereinfachte Visumsanträge und Umsiedlungskontingente. Menschen, die in Europa Schutz oder Arbeit suchen, könnten das dann auf legalem Wege erreichen, statt sich in die Hände von Schleusern zu begeben. Menschen mit legitimem Asylersuchen oder der Aussicht auf  Arbeit sollten per Flugzeug einreisen können, statt lange und gefährliche Reisen anzutreten und das eigene Leben auf dem Meer zu riskieren. Solange es keine umfassende Lösung gibt, wird das massenhafte Ertrinken im Mittelmeer weitergehen.