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„Libyen ist die Hölle“: Augenzeugenberichte von Geflüchteten

"Ich wurde ohne Grund von uniformierten Männern festgenommen." An Bord der Prudence erzählt Oumar, was er in Libyen erlebt hat.

Unser Pressereferent Stefan Dold begleitete im Juli 2017 für einige Wochen unser Team auf dem Rettungsschiff Prudence im Mittelmeer. Einige der berührenden Geschichten, die er bei den Begegnungen mit den Geretteten über deren Leben und Flucht erfuhr, hat er aufgeschrieben. Darunter sind auch schlimme Erlebnisse in libyschen Internierungslagern. Inzwischen hat Ärzte ohne Grenzen eine ganze Dokumentation zur Situation in diesen Camps veröffentlicht, in denen die Inhaftierten ihrer Menschenwürde beraubt werden. Die Rettungseinsätze der Prudence mussten wir aktuell aussetzen, nachdem libysche Behörden am 11. August die Einrichtung einer eigenen Such- und Rettungszone ankündigten und den Zugang von Hilfsorganisationen zu internationalen Gewässern vor ihrer Küste beschränkten. Wir befürchten, dass dies eine tödliche Lücke bei der Seenotrettung im Mittelmeer reißen wird. Flüchtlinge, Asylsuchende und Migranten, die die libysche Küstenwache aufgreift, werden in diese Internierungslager (zurück-)gebracht.

Paul und Alice

Paul*, 29 Jahre alt, und seine Frau Alice*, 22 Jahre alt, kommen aus Kamerun. Sie wussten nicht, welche Hölle sie in Libyen erwarten würde.


„Als ich aus dem Kamerun wegging, war es nicht meine Absicht, nach Europa zu gehen. Ich war sogar schon einmal dort, in Lugansk, in der Ost-Ukraine. Ich habe dort ein berufliches Training als Physiotherapeut absolviert. Ich spreche auch ein bisschen Russisch. Ich konnte das letzte Jahr meiner Ausbildung nicht abschließen, weil ich zurück nach Kamerun ging, als der Krieg in der Ost-Ukraine ausbrach.

Zur gleichen Zeit starb mein Adoptivvater und ich fand keine Möglichkeit, meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Also bin ich nach Algerien gegangen und später nach Marokko, wo ich drei Jahre lang in Tamanrasset und Oran lebte. Nach einiger Zeit kam meine Frau nach. So wie viele andere West-Afrikaner arbeitete ich auf dem Bau. Das Problem war, dass ich nicht offiziell arbeiten durfte, keiner meiner Arbeitgeber gab mir einen Vertrag. Häufig bezahlten sie weniger als vereinbart oder auch gar nichts. Wir wurden häufig betrogen.

Als ein Freund in Libyen mir sagte, dass es dort Arbeit gäbe, gingen meine Frau und ich dorthin. Ich wusste, dass es in Libyen einen Konflikt gab, aber ich dachte, dass es nicht überall schlimm ist. Und ich hatte nicht erwartet, wie höllisch die Situation war. Meine Frau und ich wurden schon nach wenigen Tagen entführt und auf privatem Gelände festgehalten. Dort waren etwa 700 Menschen aus der Subsahara-Region. Wir wurden in einem Innenhof festgehalten und hatten nicht einmal ein Dach über dem Kopf. Die Wärter waren Libyer, sie waren maskiert, trugen Kalaschnikows und Raketenwerfer und sie kontrolliert jeden Abend, wer schon bezahlt hatte. Es gab keine Toilette dort und wir mussten für unser Essen bezahlen.

Jeder musste 1.000 Euro für seine Freilassung bezahlen. So verdienen sie Geld mit Menschen aus Subsahara-Afrika. Sobald wir bezahlten, wurden wir auf ein Schlauchboot ins Mittelmeer gesetzt. Das war der einzige Weg aus dem Gefängnis. Ich rief meine Familie an und bezahlte so 1.500 Euro für uns beide. Für den Rest musste ich zweieinhalb Monate von morgens bis abends auf dem Bau arbeiten. Wir hatten keine Wahl. Als ich in das Boot stieg, war ich bereit zu sterben. Nie wieder Libyen! Libyen ist die Hölle. Ich habe noch nie so ein instabiles und gefährliches Land gesehen. Alle sind bewaffnet, sogar die kleinen Jungen laufen mit Waffen herum.“
 

George

George*, 22 Jahre alt, aus Nigeria: Er war sieben Monate lang eingesperrt, weil seine Familie nicht für seine Freilassung zahlen konnte.

Vor zwei Jahren bin ich nach Libyen gekommen, um Arbeit zu finden. Am Anfang arbeitete ich in Sabha als Tagelöhner, aber es war gefährlich. Zweimal wurde ich von Libyern beschossen. Dann brachten sie mich in ein Gefängnis und schlossen uns in eine Zelle. Alle mussten ihre Familien anrufen und sie dazu bringen, für die Freilassung zu bezahlen. Sie verlangten fast 700 Euro, aber meine Familie hatte das Geld nicht. Deswegen war ich sieben Monate lang eingesperrt. Wir wurden mit Rohren und Stöckern geschlagen. Besonders an Montagen, als sie kontrollierten wer bezahlt hatte und wer nicht. Sie benutzten auch Elektroschocks. Es gab viele Infektionen und keine medizinische Versorgung. Ich hab gesehen, wie ein Mann der neben mir schlief starb. Seine Arme und Beine waren zusammengebunden eines Morgens fanden wir ihn tot auf. Sie haben mich nur gehen lassen, weil ich sehr krank wurde. Ich hatte Glück, dass ein Freund mir half, als ich freigelassen wurde.
 

Oumar 

Oumar*, 26 Jahre alt, kam aus dem Senegal nach Libyen, um Arbeit zu suchen:

 

„Ich bin 26 Jahre alt und komme aus einem Dorf im Süden des Senegal. Vor zweieinhalb Jahren bin ich nach Libyen gekommen, um Arbeit zu finden. Letztes Jahr wurde ich in Tripolis ohne Grund von uniformierten Männern festgenommen. Sie steckten mich in ein Gefängnis in der Stadt Garabulli. Dort verbrachte ich drei Monate. Viele Leute aus Westafrika wurden dort festgehalten. Es war total überfüllt, wir hatten kaum Platz zum Schlafen. Wir bekamen nur salziges Wasser zu Trinken und einmal am Tag Nudeln. Wir alle hatten Hautinfektionen und kratzten uns ständig. Es gab keine medizinische Versorgung. Zwei Menschen aus dem Chad waren sehr krank und starben im Gefängnis, als ich auch dort war.

 

Die Aufpasser schlugen uns ständig. Unsere Füße waren zusammengebunden und sie kamen und schlugen uns mit Metallröhren auf die Fußsohlen. Sie verwendeten auch Elektroschocks. Die Aufpasser fragten nach der Telefonnummer meiner Familie im Senegal und verlangten mehrere hundert Euro von meinem Vater. Er musste drei seiner fünf Kühe für meine Freilassung verkaufen.

Danach arbeitete ich auf dem Markt, um Geld für das Boot zu sparen. Während dieser Zeit kamen Diebe in das Haus, in dem wir schliefen und nahmen alles mit, was wir besaßen. Mich haben sie geschlagen und mit einem Messer verletzt. Man kann noch die Narben auf meinem Arm und meiner Stirn sehen.“

 

Samira

Samira* kommt aus einem palästinensischen Flüchtlingslager im Libanon. Sie ist im siebenten Monat schwanger und allein mit ihren fünf Kindern geflohen:

„Der Weg durch die Wüste vom Sudan nach Libyen war schrecklich. Wir sind auf überladenen Pickups gefahren. Einmal wurden wir von bewaffneten Männern angegriffen, die in die Luft schossen. Der Fahrer trat aufs Gas und der Pickup hüpfte auf und ab. Zwei Frauen aus Eritrea fielen vom Wagen und starben. Eine der beiden hatte gerade eine Operation am Bauch hinter sich. Als sie fiel, öffnete sich die Wunde. Die Frau hinterließ eine sieben Monate alte Tochter, die von einer anderen Familie aus Eritrea adoptiert wurde. Bewaffnete Männer nahmen uns unser Geld und unsere Pässe weg. Während der Fahrt sahen wir immer wieder Leichen. Wir verbrachten einen Monat in der Wüste mit wenig zu essen und zu trinken. Wir schliefen draußen oder in irgendwelchen Garagen. Letzte Nacht brachen wir dann mit einem Holzboot von der libyschen Küste auf.

Mein ältester Sohn ist schon in Hamburg. Ich will zu ihm, damit unsere Familie wieder zusammen sein kann. Mein Mann ist noch im Libanon. Wir kommen aus einem palästinensischen Flüchtlingslager nahe der Stadt Sur. Wir sind keine libanesischen Staatsbürger und wurden diskriminiert. Das Schlimmste war, dass radikale islamistische Gruppen mehrmals versucht haben, meinen 18 Jahre alten Sohn zu rekrutieren. Im Libanon waren wir nicht mehr sicher. So bin ich mit den Kindern zu meiner Familie in Syrien gegangen. Doch bald sind in unserer Gegend Kämpfe ausgebrochen. Darum flohen wir in den Sudan und von dort nach Libyen.“

Karim

Karim* kommt aus einem Flüchtlingslager in Damaskus:

„Meine Frau und mein 22 Jahre alter Sohn sind schon in Aachen und ich möchte zu ihnen. Ich bin ein palästinensischer Flüchtling aus dem Flüchtlingslager Jarmuk in Damaskus. Ich bin Maler und Sänger traditioneller palästinensischer Musik. Ein Jahr nach Kriegsausbruch musste ich die Gegend verlassen und meine zwei Häuser aufgeben. Alles, was ich in 14 Jahren aufgebaut habe, ist verschwunden. Zuerst bin ich in einem Lager in der Nähe von Damaskus untergekommen. Doch dort wurde es auch immer schwieriger. Mein Sohn ging vor drei Jahren, erst in die Türkei, dann nach Deutschland. Meine Frau folgte ihm vor zwei Jahren. Weil sie eine Palästinenserin aus Jordanien ist, konnte sie mit dem Flugzeug ausreisen. Ich kann das nicht. Meine einzige Chance, ihr zu folgen, war, in den Sudan zu fliegen und von dort durch die Wüste und über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen. Der Weg durch die Wüste war schlimm. Bewaffnete Männer stahlen unser Geld, unsere Kleidung und unsere Pässe. Wir sind mit dem Boot nach 21 Uhr losgefahren und waren acht Stunden lang auf dem Wasser. Als wir euer großes Schiff sahen, wussten wir, dass wir endlich in Sicherheit sind. Es war, als würde man wieder ins Leben zurückkehren.“ 

Mohammed

Mohammed*, 24 Jahre alt, aus dem belagerten Ost-Ghouta in Syrien:

„Ich habe 30 Familienmitglieder bei den chemischen Angriffen auf Ost-Damaskus im Jahr 2013 verloren, darunter neun Cousins und Cousinen. Zum Zeitpunkt des Angriffs war ich bereits in eine andere Stadt gezogen, die etwa 35 Kilometer entfernt liegt. Seitdem lebte ich in großer Sorge. Ich habe dort einen Abschluss in Business Administration und Public Relations gemacht. Doch 2015 floh ich nach Khartoum, weil Sudan das einzige Land ist, wo Syrier ohne Visum hingehen können. Dort verbrachte ich ein Jahr. Für ungefähr fünf Monaten bin ich durch die Wüste fortgegangen nach Libyen. Ich träume davon, mein Studium mit einem Master-Abschluss in Europa zu beenden und für eine internationale Organisation wie die UN oder das WFP zu arbeiten. Ich möchte gern nach Deutschland oder Holland gehen. Mit YouTube-Videos habe ich schon ein bisschen Deutsch gelernt, zum Beispiel ‚Guten Tag‘, ‚Guten Abend‘ und ‚Apotheke‘.“

*Name geändert