Niger: Ausgesetzt in der Wüste - Frauen sind besonders gefährdet
Datteln, Kleidung, Elektroartikel – in Assamaka passieren alle erdenklichen Waren den Grenzübergang zwischen Niger und Algerien. Das Dorf liegt am Trans-African Highway, einer Handelsroute, die auf einer Länge von 4.500 Kilometern die nordafrikanische Küste mit der westafrikanischen Küste Nigerias verbindet. Neben all den Handelswaren hat sich noch ein zusätzlicher lukrativer Geschäftszweig entwickelt: Assamaka ist heute ein Drehkreuz des Menschenschmuggels und eine Zwischenstation für Menschen auf der Flucht.
Weltweit knapp 110 Millionen Menschen auf der Flucht
Die Flucht- und Migrationsrouten der Menschen, die in Assamaka aufeinandertreffen, sind unterschiedlich. Ihre Heimat liegt in Ländern wie Guinea, Elfenbeinküste, Kamerun, Liberia und Nigeria. Seit der libyschen Revolution im Jahr 2011 ist der Weg durch Niger und dann nordwärts durch Libyen oder Algerien die Hauptmigrationsroute nach Europa. Einige dieser Menschen wagen letztendlich die lebensgefährliche Überfahrt über das Mittelmeer. Nicht alle kommen dort an. Allein dieses Jahr sind bereits 1.064 Menschen auf offener See ertrunken.
Europa schottet sich währenddessen weiter vor diesen Menschen ab und verschärft die gemeinsame Asylpolitik und dazugehörige Rhetorik. Für die schutzbedürftigen Menschen auf dem Mittelmeer, von denen wir viele aus Seenot retten und medizinisch und psychologisch versorgen, hat das katastrophale Folgen.
Zurück in Assamka: Auf der Durchreise gen Norden
Assamaka ist ein lebensfeindlicher Ort. Er ist von Dünen umgeben und bietet nahezu keinen Schutz gegen die Hitze. Um einen ursprünglich kleinen Grenzübergang haben sich im Laufe der Zeit etwa 2.000 Einwohner*innen angesiedelt und das Dorf Assamaka gebildet. Es gibt einige Familienhäuser und ein paar vereinzelte Bäume. Obwohl es kein fließendes Wasser gibt, haben in Assamaka einige Gästehäuser und Pensionen für Menschen auf der Durchreise geöffnet. Zu jedem Zeitpunkt Und man sieht man in dem Dorf Hunderte, manchmal Tausende Geflüchtete und Migrant*innen, die auf eine Möglichkeit zur Weiterreise warten.
Sie befinden sich – bildlich gesprochen – in einem dunklen Tunnel. Sie kennen zwar nicht den Ausgang, aber sie wissen, woher sie kommen und welche Qualen sie durchlebt haben. Zurück wollen nur die wenigsten.“
- Dr. Doudou Sagna, medizinsicher Leiter und Gynäkologe
Sie suchen Schutz im Schatten von Häuserwänden oder unter den Bäumen. Sie sind aus dem Dorfbild nicht mehr wegzudenken und zu jeder Zeit sehr sichtbar. Einige Frauen, Kinder und Männer sind gerade angekommen, andere wurden aus Algerien zurückgedrängt und warten auf die nächste Mitfahrgelegenheit – versteckt auf der Ladefläche eines Geländewagens oder zwischen all den Waren im Inneren eines Lastwagens. Oder aber sie warten darauf, dass ihnen jemand Geld schickt. In Assamaka selbst gibt es kaum Möglichkeiten, eigenes Geld zu verdienen.
Wieviel kostet eine Flucht?
Für jeden Abschnitt auf den Flucht- und Migrationsrouten braucht es Geld. Der nächste Abschnitt beinhaltet den Grenzübertritt sowie die Fahrt in die 30 Kilometer entfernte algerische Kleinstadt Inguizam. Allein dieser Abschnitt kostet rund 15.000 Westafrikanische Francs. Zum Vergleich: ein halber Liter Wasser kostet 25 Francs.
Es gibt die Möglichkeit, in den 200 Kilometer entfernten inoffiziellen Gold-Minen von Arlit zu arbeiten – eine körperlich anstrengende Arbeit und vor allem Männern ohne Kinder vorbehalten. Sobald genug Geld verdient wurde, versuchen einige von ihnen direkt von Arlit aus über einen der zahlreichen Schleichwege die Wüste nach Algerien zu durchqueren. Der Preis: 60.000 Francs.
Frauen sind zusätzlichen Risiken ausgesetzt
Über die Gold-Minen hinaus sind die Erwerbsmöglichkeiten sehr begrenzt. Es ist einer der Gründe, warum vor allem Frauen sehr gefährdet sind, sexuell ausgebeutet zu werden. Oft haben sie keine Papiere bei sich und können keinerlei Rechte für sich geltend machen. Nicht selten werden ihre schwierigen wirtschaftlichen Verhältnisse ausgenutzt, andere Jobs versprochen oder gute Verdienstmöglichkeiten in Aussicht gestellt, die aber in der Realität nicht existieren.
Um diese Situation zu verbessern, stellen sich unsere Teams in Assamaka geschlechterspezifischen medizinischen Herausforderungen, mit denen sich Frauen zwangsweise konfrontiert sehen. „Dazu zählt vor allem die Früherkennung sowie die Behandlung von HIV und anderen sexuell übertragbaren Krankheiten. Auch die Beratung sowie Bereitstellung verschiedener Verhütungsmethoden gehört zu unserem Arbeitsalltag, genauso wie die Vor- und Nachsorge von Schwangerschaften“, berichtet der Arzt Doudou Sagna.
Abschiebungen in die Wüste
Nicht nur in Assamaka selbst leisten wir medizinische Hilfe. Denn auf algerischer Seite werden Menschen auf der Durchreise regelmäßig aufgegriffen, inhaftiert und systematisch zurück nach Niger abgeschoben. Viele unserer Patient*innen berichten, dass sie Gewalt bis hin zur Folter erlebt haben. Seit 2020 haben wir jährlich zwischen 23.000 und knapp 30.000 Abschiebungen beobachtet. Dabei werden die Menschen nicht an offizielle Stellen übergeben, sondern oftmals völlig orientierungslos in der Wüste ausgesetzt. Unsere Teams erhalten dann einen Hinweis darauf, dass eine neue Gruppe ankommt: Oftmals sind es 800 bis 1.000 Menschen auf einmal.
In dieser Situation fahren wir los und suchen nach besonders gefährdeten Patient*innen, um sie zu behandeln oder bei Bedarf in spezialisierte Krankenhäuser zu verlegen. Dazu zählen vor allem Schwangere und Kinder sowie Menschen mit offenen Wunden oder Brüchen. Auch sie müssen sonst zu Fuß zurück nach Assamaka gelangen, und das bei Temperaturen von bis zu 45 Grad Celsius, ohne Trinkwasser und Nahrung und ohne Schutz vor der erbarmungslosen Sonne.
Die lebensbedrohliche Willkür der Politik
Diese Verhaftungen, Inhaftierungen und Ausweisungen durch die algerische Regierung verstoßen gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung und stehen im Widerspruch zu den internationalen Menschenrechtsnormen und dem internationalen Flüchtlingsrecht."
- Jamal Mrrouch, unser Landeskoordinator im Niger
Entlang der Fluchtroute reiht sich die aktuell geplante EU-Asylrechtsreform in die politische Willkür ein: An den europäischen Außengrenzen sollen gefängnisartige Camps entstehen, in denen schutzsuchende Frauen, Kinder und Männer wochenlang isoliert und eingesperrt werden können. Schon jetzt sehen wir, dass sie an den EU-Außengrenzen häufig keine angemessene medizinische Versorgung bekommen und mit ihren Traumata weitgehend allein gelassen werden.
Das Leid wird sich weiter verschärfen
Es fehlt vor allem an Zugang zu fairen Verfahren, die rechtsstaatlichen Standards entsprechen. Unsere Teams behandeln seit Jahren Menschen, die aufgrund der fatalen europäischen Abschreckungs- und Abschottungspolitik dringend Hilfe benötigen.”
- Parnian Parvanta, stellvertretende Vorsitzende von Ärzte ohne Grenzen Deutschland.
Alle Maßnahmen zur Eindämmung hindern die Menschen nicht daran, weiterhin Sicherheit zu suchen. Stattdessen haben sie die Risiken für Migrant*innen erhöht, indem ihre Handlungen kriminalisiert und ihre Menschenrechte verletzt werden. Die EU muss der Gewalt und den Verstößen gegen das Völkerrecht an den EU-Grenzen ein Ende setzen, den Export von gewaltsamem Grenzmanagement in Staaten wie Algerien, Niger und Libyen stoppen und sichere Fluchtwege für Schutzbedürftige gewährleisten. Menschen, die in der EU ankommen, brauchen Zugang zu Hilfe, Aufnahme, Schutz und Gesundheitsversorgung.
So helfen unsere Teams in der Region
Unsere Teams arbeiten seit August 2018 in der Region Agadez und leisten medizinische und humanitäre Hilfe für Frauen, Männer und Kinder.